Bühne für das Stück “Call it... kissed by the sun... better still the revenge of geography...” von Robin Orlyn (c) Yann Le Herisse
Ibrahim Sissoko in einer Choreographie von Robin Orlyn
Ein Boxer, ein athletischer Tänzer des zeitgenössischen Tanztheaters, „l´après-midi d´un faune“ mit choreographischen Reminiszenzen an das berühmte Ballett von Nijinsky, ein junger Mann, der von der Polizei verfolgt wird, ein Hip-hopper und ein Saalanimateur. All diese Bestandteile enthält der von der Südamerikanerin Robin Orlyn choreografierte und nur von einer Person – Ibrahim Sissoko – getanzte Abend: .
Und was vielleicht in der Beschreibung als krude Mischung verstanden werden könnte, entwickelt sich auf der Bühne nach und nach in einer Logik und Natürlichkeit, die keine Zweifel an der Stringenz aufkommen lässt, mit der Orlyn hier ihre Schau auf gewisse zeitgenössische Problematiken fokussiert. Ibrahim Sissoko, der groß gewachsene athletische Schwarze, für den es keine Berührungsängste zwischen verschiedenen Tanzdisziplinen zu geben scheint, überzeugt nicht nur mit seiner extrem präsenten Körperperformance. Seine im Lauf des Abends zunehmende Interaktion mit dem Publikum besticht auch durch seinen Witz und seine Schlagfertigkeit.
Doch nicht genug, dass hier ein genialer Tänzer, dessen Tanzheimat sich im „Centre National de la Dance“ in Paris befindet, mit einer Choreografin zusammengetan hat, welche auf der Klaviatur des kurzweiligen Bühnengeschehens höchste Meisterschaft errungen hat. Hinzu kommen noch zwei weitere Künstler, die maßgeblich für den Erfolg verantwortlich sind. In dem Stück “Call it… kissed by the sun… better still the revenge of geography…” das anlässlich des “festival nouvelles” im Pôle-Sud” in Straßburg über die Bühne ging, zeigte Maxime Rebière, was es heißt, Meister der Beherrschung des elektronischen Pinsels zu sein. Er legte aufgrund der Konzeption von Philippe Lainé nicht nur die Fahne der Freiheit von Delacroix´s Revolutionsbild „Die Freiheit führt die Bürger über die Barrikaden“ in die Hände eines jungen Schwarzen, sondern gestaltete ein Einkaufszentrum mit davor geparktem Auto und einem überdimensionalen Einkaufswagen, eine Ballerina in zartem Röckchen oder das verspielte Bühnenbild zum „l´apres midi d´un faun“ auf die große Schachtelwand auf der Bühne, die ihm dafür eine wunderbare Projektionsfläche bot.
Besonders die ständige optische Veränderung, welche das Publikum live mitverfolgen konnte, bot Augenfutter noch und nöcher. Das Eincremen Sissokos mit weißer Farbe, um so zu einem Weißen zu mutieren, der grazil auf der Bühne eine historische Choreografie zur Musik von Claude Debussy in Anlehnung an die weltberühmte Formensprache Nijinsky tanzen kann, aber auch das abermalige Einschwärzen durch die Kunst Rebières mithilfe des computergesteuerten Farbtopfes waren nicht die einzigen Hinweise auf die Rassenproblematik, die Orlyn ja besonders in ihrem Heimatland hautnah miterlebte. Ihr Motto „die Kunst dient zu nichts, wenn sie nicht mit der Realität zu tun hat“ wird besonders in jenem Part deutlich, in welchem sie direkten Bezug auf das tragische Ereignis des Todes zweier junger Menschen in Clichy-sous-Bois Bezug nimmt. Zyed Benna und Bouna Traoré fanden 2005 nach einer Verfolgungsjagd von der Polizei in einem Hochspannungsschrank den Tod. „Morts pour rien“ – sinnloser Tod – ist neben ihren Namen in großen Lettern auf der Schachtelwand zu lesen. Hundegebell und Polizeisirenen unterstützen in diesem Moment die Assoziationen und Sissoko mutiert zum Gehetzten, weit ab vom künstlerischen Spagat zwischen Schwarz und Weiß.
Doch nicht nur tragische oder künstlerisch anspruchsvolle Momente reihen sich aneinander. Als Sarkozy und einige seiner Minister als Mr. Proper auf einer Putzmittelflasche erscheinen, oder Sissoko das verblüffte Publikum auffordert, doch endlich seine handys einzuschalten und gleichzeitig in drei Minuten auch noch den Alarmton derselben zu aktivieren, oder als er aus den Zuschauerreihen fünf Freiwillige rekrutiert , um ihn in das große Finale zu begleiten, gelingt der Choreografin Orlyn etwas ganz, ganz Seltenes. Durch die persönliche Teilnahme und vor allem durch das erlösende Lachen des Publikums gewinnt sie nicht nur alle Sympathien, sondern identifiziert die Zuseherinnen und Zuseher gleichzeitig extrem stark mit dem Bühnengeschehen.
Eine Identifikation, die heute mehr als je zuvor gebraucht wird. Nicht nur, um als Künstler zu überleben, sondern als Gesellschaft, die ihre sozialen Trennlinien dringend auch im „real-life“ so verwischen müsste, wie im Stück von Robin Orlyn.