Tanz den Johann Strauss

Es haben sich wohl schon Legionen von Exegeten mit der Frage beschäftigt, was Carlos Kleiber eigentlich für komische Bewegungen macht.

Sein Gehampel erscheint ziemlich unverständlich – und trotzdem ist das, was das Orchester ausgehend von seinem Gehampel macht, großartig: das Video nebendran ist die beste Interpretation der Tritsch-Tratsch-Polka, die ich kenne.

Was macht also Kleiber? – “Er tanzt zur Musik”, sagen einige weniger schlaue Zeitgenossen. Doch nichts könnte fälscher sein: Er tanzt die Musik!

Er zwingt die Musiker zum Tanzen, indem er sie mit kalkuliert provozierenden Bewegungen in den Tanz hineinreißt.

Was heißt das?

Schauen wir uns einfach mal den Anfang des Trios an (Anhören). Im vierten, sechsten und achten Takt gibt es dort jeweils eine Sechzehntelfigur:

Tritsch-Tratsch-Polka, Notenbeispiel 1

Vor der ersten und der zweiten Figur zuckt Kleiber kurz mit der Hand. Wohlgemerkt vor der Figur, nicht gleichzeitig mit ihr. Das heißt: Die Musiker müssen die Energie aufnehmen und selbst weiterführen. Kleiber illustriert die Musik nicht, sondern inspiriert sie.

Was aber macht Kleiber vor der dritten Figur? Nichts! D.h. er bewegt seine Hand minimal, sodass man denkt, er würde gleich ein ähnliches Zucken vollführen wie vor den ersten beiden Figuren. Doch urplötzlich entschließt er sich anders und legt die Hand lässig nach hinten. Wenn wir mit der Bewegung gerechnet haben, ist es höchst schmerzhaft, das zu sehen – unser ganzer Körper hatte sich schon darauf eingestellt, dass Kleibers Hand gleich zuckt – und sie tut es nicht! Und so zucken wir unwillkürlich selbst.

Das ist die Magie der Kleiberschen Dirigiertechnik. Wichtiger als das, was er macht, ist das, was er nicht macht – die schmerzhaften Lücken, die Andeutungen, die er nicht ausführt. Denn all das müssen die Musiker ergänzen – ja, sie fühlen sich körperlich förmlich gezwungen, das zu ergänzen, was sie vom Dirigenten erwartet haben, aber nicht bekommen! Auf diese Weise wird die Show des Dirigenten merkwürdig und lückenhaft – doch das, was klingt, wird unglaublich energiegeladen und plausibel.

Wenn dieselbe Stelle später wiederkommt (Anhören), sind Kleibers Bewegungen sogar noch marginaler. Das Zucken vor der ersten Figur ist zu einem sehnsuchtsvollen, kaum merklichen Dehnen des Körpers nach links geworden. Vor der zweiten Figur schüttelt sich Kleiber schlangenartig. Vor der dritten neigt sich sein Körper nach rechts. All diese Bewegungen werden nur dann verständlich, wenn man die verschwiegene Grundbewegung – das Zucken mit der Hand – mitdenkt. Sie entfalten ihre Kraft, wenn man erwartet, dass Kleiber (wie am Anfang) die Energie explizit vormacht: doch nonchalant verzichtet er darauf. Und löst gerade dadurch bei den Musikern einen akuten Energiestau aus, der sich anschließend umso vehementer entladen muss.

Richtig ins Tanzen scheint Kleiber in der Reprise zu kommen. Wie nur irgendein Teenager in der Dorfdisko hupft er wild vor dem Orchester rum (Anhören) – bloß dummerweise hört er exakt ein paar Millisekunden vor dem Höhepunkt auf! Wieder muss das Orchester ergänzen, was der Dirigent uns vorenthält.

Dieses Verfahren ist ausgesprochen intelligent, effizient und – uneitel. Selten habe ich einen Dirigenten gesehen, der die inhärente Schönheit seiner persönlichen Show zugunsten der Musik so zurückstellt. Kleibers Show wirkt bizarr, ungewöhnlich, unverständlich, exzentrisch. Doch sie ist nichts davon. Sie ist extrem kalkuliert und funktional. Sie zeigt, welche Macht ein Dirigent haben kann, wenn er seine Bewegungen genau durchdenkt und kreativ damit umgeht.


wallpaper-1019588
Mit Kindern über gleichgeschlechtliche Liebe reden
wallpaper-1019588
[Comic] Seven Sons
wallpaper-1019588
Momentary Lily: Original-Anime angekündigt
wallpaper-1019588
LUCK LIFE: Band feiert Europapremiere auf der Connichi