Tamiflu: Heilloser Profit
Tamiflu: Heilloser Profit
Vermeintliches Grippe-Wundermittel Tamiflu schlechter als sein Ruf. Hersteller Roche hält unliebsame Studien unter Verschluß. Für Kritiker hat das System.
Von Ralf Wurzbacher (junge Welt)
Es gilt als das Patentrezept bei Grippeinfektionen aller Art: Tamiflu. Vor drei Jahren, als die Schweinegrippe die halbe Menschheit in Angst und Schrecken versetzte, wurde es als wahre Wunderwaffe zur Eindämmung einer – wie sich später zeigte halluzinierten –»Pandemie« gefeiert. Regierungen in aller Welt orderten es in Massen, besorgte Bürger bunkerten es im Kühlschrank, und Ärzte und Apotheker freuten sich über steigende Umsätze. Dem Schweizer Pharmariesen Roche spülte der Triumphzug seines Medikaments Milliardenprofite in die Kassen. Jetzt hat sich herausgestellt: Die ganze Erfolgsgeschichte war ein großer Schwindel. Das Medikament hält nicht annähernd, was es verspricht. Und der Hersteller wußte darüber Bescheid, behielt sein Wissen aber für sich.
Eine am Mittwoch im Fachmagazin Cochrane Database of Systematic Reviews veröffentlichte Metaanalyse zu den Wirkungen des Mittels gelangt zu dem Schluß, daß der Produzent die Angaben zu den Wirkungen und Nebenwirkungen gezielt geschönt und unliebsame Studienergebnisse zurückgehalten hat. Die Cochrane Collaboration ist ein weltweites Netzwerk von Wissenschaftlern und Ärzten, das sich die unabhängige Bewertung von medizinischen Therapien auf die Fahnen geschrieben hat. Nach ihren Erkenntnissen ist Tamiflu nicht nur weniger effektiv als von Roche angegeben, es ist dazu auch weniger gut verträglich. Nach bisher unveröffentlichten Daten des Pharmakonzerns müssen nach einer Tamiflu-Verabreichung genauso vielen Patienten wegen einer Lungenentzündung und anderer Komplikationen behandelt werden wie in Fällen, in denen das Mittel nicht zur Anwendung kommt.
Roche ging dagegen stets damit hausieren, mit dem Medikament werde die Dauer einer Influenzagrippe um einen Tag verringert, die Krankheit nehme einen harmloseren Verlauf, und gefährliche Nebenwirkungen würden verhindert. Eben diese unterstellten Vorzüge waren es, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2009 veranlaßten, Tamiflu als Notfallmittel zu empfehlen, um damit die Ausbreitung der Schweingerippe einzudämmen. Für das Cochrane-Forscherteam geht das an der Realität vorbei: Zwar bestätigt es eine im Durchschnitt um 21 Stunden verkürzte Krankheitsdauer für Patienten mit Tamiflu-Medikation. Hinweise auf eine über die Konkurrenzprodukte hinausgehende Heilkraft und Verträglichkeit zeigten sich aber keinesfalls. Obwohl in einigen Studien psychische Beeinträchtigungen und Störungen des Nervensystems aufgetreten waren, sei dies nicht veröffentlicht worden, kritisieren die Autoren. Vielmehr lese man in den beiden am häufigsten zitierten Publikationen: »Es gab keine durch das Mittel verursachten schweren Nebenwirkungen.«
Das Ganze hat System. Laut Gerd Antes, Präsident des Deutschen Cochrane Zentrums (DCZ) an der Universität Freiburg, sei bislang nur ein »Bruchteil« der Tamiflu-Studien veröffentlicht worden. Von inzwischen 100 Untersuchungen beziehe sich Roche gerade einmal auf drei, während der große Rest unter den Teppich gekehrt werde, erklärte er im Deutschlandfunk. Das gilt allein für 60 Prozent der Daten über klinische Studien der Phase III, die von entscheidender Bedeutung für die Zulassung eines Wirkstoffs ist. Zu den bislang unterdrückten Expertisen zählt auch die umfangreichste aller jemals durchgeführten Studien an 1400 Menschen aller Altersstufen. Antes verwies u.a. auf einen japanischen Kinderarzt, der glaubt, mehrere Selbsttötungen auf die Verabreichung von Tamiflu zurückführen zu können. Für den deutschen Cochrane-Chef ist die »unterbleibende Publikation von Studien ein chronischer Skandal im Medizin- und Forschungsbetrieb«. Allerdings, so beschied er, »fehlen die Erklärungen dafür«.
Aber muß man dafür ein Prophet sein? Laut Ärzteblatt erzielt Roche mit Tamiflu einen Jahresumsatz von über einer Milliarde Dollar. 2009, auf dem Gipfel der Hysterie um die Schweinegrippe (H1N1), sollen es sogar 3,37 Milliarden Dollar gewesen sein. Das H1N1-Virus war für die gesamte Pharmabranche ein gigantisches Geschäft, auch wenn sich die beschworene »globale Seuche« bald als »harmloser Schnupfen« entpuppte. Die millionenfach in Deutschland gehorteten Impfstoffdosen gegen das Virus mußten mittlerweile vernichtet werden, weil sie abgelaufen sind und kaum einer sie brauchte. Ihre Milliardengewinne macht dem Hersteller trotzdem niemand streitig, selbst wenn inzwischen ernste Zweifel bestehen, daß beim Krisenmanagement seinerzeit alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Die WHO hatte seinerzeit zum ersten Mal und auf zweifelhafter Grundlage den Pandemie-Notfall ausgerufen, und Kritiker meinen, die Organisation lasse sich von Lobbyisten der Pharmaindustrie beraten.
Einer der Kritiker ist der Mediziner Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des pharmakritischen Arznei-Telegramms. »Es ist erschreckend, daß der Roche-Konzern weltweit jahrelang Milliardenumsätze mit dem Grippemittel Tamiflu einfährt auf einer Datenbasis, die im wesentlichen auf heißer Luft beruht«, äußerte er sich gegenüber junge Welt. Behörden einschließlich der WHO hätten jahrelang ein Medikament empfohlen und propagiert, ohne die Datenbasis zu hinterfragen. Es sei also »kein Wunder, daß Roche mauert, alle Studiendaten zur Verfügung zu stellen«, erklärte Becker-Brüser und resümierte: »Auch in heutiger Zeit läßt sich mit einem ziemlich nutzlosen Mittel noch eine Menge Geld verdienen.«
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