"Dieser Tag ist die Grenze für unsere Sorgen und Mühen.
Denn dieser Tag allein ist schon lang genug.
Dieser Tag ist lang genug,
um zu verletzen oder zu heilen.
Dieser Tag ist lang genug,
um den Glauben zu bewahren oder in Schande zu fallen.
Dieser Tag ist lang genug,
um Gott zu finden oder zu verlieren.
In der ganzen Weltgeschichte
gibt es nur eine wirklich wichtige Stunde:
die Gegenwart dieses Tages"
Dietrich Bonhoeffer
Ihr Lieben,
gestern hat mir Dagmar Vrings auf meine Tagebuchnotizen zum Buch DAS ESELSKIND - Wo ist Gott, wenn ein Kind sexuell missbraucht wird? folgende Zeilen geschrieben:
"Als ich heute Deine Schilderungen über den sexuellen Missbrauch an Dir las und Deine damals daraus resultierenden Zweifel an die Existenz Gottes zu glauben, der so etwas zulässt,... kam in mir die Frage auf,... wie es wohl dazu gekommen ist, dass Du Dich trotz Deiner Zweifel für das Studium der Theologie entschieden hattest?"
Ich finde diese Frage so wichtig, dass ich heute in meinen Tagebuchnotizen darauf antworten möchte:
Es gebe zu, als ich von dem Diakon im zarten Alter von 11 Jahren ein Jahr lang missbraucht wurde und als ich über vier Jahre lang von einer Schulklasse bestialisch geschlagen und gedemütigt wurde, habe ich oft an Gott gezweifelt, ja, nicht nur gezweifelt, ich habe ihn beschimpft, mit ihm gehadert, ihn nicht verstanden.Aber bereits im Alter von 8 Jahren, zu einer Zeit, in der ich sehr viel häusliche Gewalt erfuhr, hatte ich immer den Traum und die Vision, später einmal alles anders, vor allem alles besser machen zu wollen.
Wie das genau aussehen sollte, darüber machte ich mir noch keine Gedanken als Kind.
Ich begegnete in meiner Familie und meiner Verwandtschaft dem herkömmlichen christlichen Glauben, der sich allerdings in der Regel nur in Worten erschöpfte.
Wurde eben noch vor dem Abendessen gebetet, so konnte es dennoch sein, dass ich 10 Minuten später, weil ich z.B. keinen Spinat mochte, fürchterliche Prügel mit einem Teppichausklopfer bezog.
Dass ich Theologie studiert habe, hatte eigentlich drei, für mich ganz wichtige Gründe:
1. Ich glaubte, wenn ich Pastor werde und an einer evangelischen Kirchengemeinde arbeite, kann ich vielleicht etwas dazu beitragen, dass diese Welt etwas heller und etwas menschlich wärmer wird.
Ich habe mich in meinem Studium vor allem mit der Kirchengeschichte beschäftigt.
Ich wollte wissen, warum so viele Frauen und Männer in den letzten 2.000 Jahren an die Existenz Gottes glaubten und welche Glaubenserfahrungen sie persönlich gemacht hatten.
Mich haben dabei besonders Menschen beindruckt wie Pfarrer Bodelschwingh, der sich in so wunderbarer und aufopferungsvoller Weise um die ausgegrenzten Menschen am Rande der Gesellschaft kümmerte und der seinen Glauben auch dann nicht verlor, als 1869 innerhalb von zwei Wochen (!) seine damaligen vier Kinder aufgrund einer Diphtherie-Erkrankung starben.
Vom christlichen Glauben reden ist leicht, das hatte ich in meiner Familie im negativen Sinne gelernt, die christlichen Worte auch in barmherzige Taten umzusetzen, war anscheinend viel schwerer, wie ich den gewaltsamen Übergriffen auf mich entnahm.
Neben Bodelschwingh gab es da noch einen zweiten Mann, der mich besonders in meinem Denken prägte, das war Dietrich Bonhoeffer. Er lebte nicht nur seinen Glauben, sondern er hat ihn auch praktiziert.
Bonhoeffer bekam im Jahr 1939 einen Ruf als Professor in die USA und da er sich zu der Zeit ohnehin in den USA aufhielt, wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, dort zu bleiben und seine eigene Person in Sicherheit zu bringen. Er aber kehrte zurück nach Deutschland, um gegen das verbrecherische Nazi-Regime zu kämpfen und bezahlte seinen Glauben mit seinem Leben.
Der dritte und entscheidende Grund, Theologie zu studieren, war für mich, dass ich in der Bibel und dort besonders im Neuen Testament viele wundervolle Gedanken fand, "dass Jesus dort einfach, klare und praktisch erfüllbare Gebote verkündete, die, falls sie befolgt würden, eine vollständig neue, wunderbare Ordnnung der menschlichen Gesellschaft herbeiführen würden" (Leo Tolstoi).Wenn mich jemand fragt, was für mich das Wichtigste als Christ ist, so antworte ich ihm:
Jeden Tag versuchen, mit den eigenen bescheidenen Mitteln die wundervollen Worte Jesu in die Praxis umzusetzen, still, fröhlich und bescheiden.
Wichtig ist es, in diesem Leben mitzuhelfen, diese Welt zu verändern und nicht die Menschen auf das Jenseits zu vertrösten.
Und wenn ich dann durch die letzte Pforte gehe, so hoffe ich, dass dort jemand auf mich wartet und mich in Liebe aufnimmt.
Nun könnte jemand einwenden: "Und wenn nicht Werner? Wenn es da nichts gibt? Wenn da niemand auf Dich wartet?"
Dem antworte ich: "Dann habe ich hier in diesem Leben vielen Menschen und mir Freude gemacht und dann war das Leben hier auf Erden lebenswert und ich war zufrieden und glücklich."
Ich wünsche Euch nun einen fröhlichen Abend und grüße Euch herzlich aus Bremen
Euer zuversichtlicher Werner
Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt