Martin Luther King:
"Ich träume davon, dass eines Tages die Menschen sich erheben und einsehen werden, dass sie geschaffen sind, um als Brüder miteinander zu leben."
Ihr Lieben,
meine heutigen Tagebuchnotizen zu meinem Buch DAS ESELSKIND sind eine Antwort auf eine Frage, die mir schon des Öfteren und auch jetzt wieder zu Pfingsten in E-Mails und Nachrichten, die ich aus dem Kreis von Euch lieben Blogleserinnen und Bloglesern bekommen habe, gestellt wurde:
„Werner, warum hat Dir damals, als Du in Deiner Familie und in der Schule so vielen Übergriffen sexueller und gewaltsamer Art ausgesetzt warst, niemand geholfen?“
Die für heute angekündigten Tagebuchnotizen zu der Frage: "Werner, wenn man eine deutsche Mutter hat und einen russischen Vater, wie fühlt man sich dann eigentlich - als Deutscher oder Russe?" werde ich am kommenden Donnerstag beantworten.
Wie ich ja schon mehrfach angedeutet habe, hat sich meine Mutter nach dem 2. Weltkrieg in einen russischen Offizier verliebt. Nach nur 14 Tagen wurde er wegen Verbrüderung mit dem Feind nach Sibirien abkommandiert und das Kind dieser kurzen Liebe bin ich.
Ich gebe zu, dass ich als Kind und Jugendlicher gar nicht genau begriff, was da vor sich ging, denn meine Familie verheimlichte so viel wie nur irgend möglich vor mir, aber ich merkte von klein auf, das irgendetwas mit mir nicht zu stimmen schien.
Das Fatale war, dass ich die Schuld für das „Nichtstimmen“ nicht bei den Anderen suchte, sondern nur bei mir selber.
Mich hat einmal jemand gefragt, wie ich mich in meiner Kindheit und Jugend gefühlt habe. Ich kann das in zwei Worten zusammenfassen (wobei ich um Entschuldigung bitte, dass ich das eine Wort benutze).
Ich habe mich in meiner Kindheit und Jugend immer als etwas ganz Schlechtes gefühlt, schlicht und ergreifend als ein Stück Scheiße.
Mein Verstand sagte mir, dass, wenn man mit einem Kind, einem Jugendlichen wie mir so umgeht, wie man es tut, ich dann doch böse und schlecht sein muss.
Das zweite Gefühl, das ich in meiner Kindheit und Jugend empfand, war das Gefühl, vogelfrei zu sein.
Jeder, der dazu die perverse Lust verspürte, vergriff sich ungestraft an mir. Dieses Ausgeliefertsein, diese Schutzlosigkeit, dieses Wissen, keine Stelle auf dieser Welt zu haben, wo ich mich sicher fühlen konnte, das bedeutete für mich, vogelfrei zu sein.
Damit Ihr versteht, was ich genau meine, möchte ich Euch eine Szene aus meiner Jugend erzählen, als ich, wie ich schon erzählte, auf einer Klassenfete eingeladen war und dort geschlagen, gequält und gefoltert wurde.
Am Ende des grauenvollen Abend schleppte mich der kräftige Anführer der Klasse (sein Lieblingsspruch lautete: „Was mich nicht kaputt macht, macht mich hart! Und bist Du nicht hart, mach ich Dich kaputt!“ unter dem grölenden Gelächter der restlichen Klasse nackt zu einer Toilette, um, wie er sagte, “mir den Rest zu geben“.
Er packte mich fest im Nacken und schrie mir ins Ohr: „Schade, dass Du nicht durch das Toilettenrohr passt, sonst könnte ich Dich Stück Scheiße gleich wegspülen.“
Dann nahm er meinen Kopf, drückte ihn brutal in die Kloschüssel und zog die Spülung, während mir einige Klassenkameraden mit voller Wucht in den Po traten.
Das, was ich nie verstand, in meiner Kindheit und Jugend, war die Tatsache, dass sich keine Stimme erhob, dass sich keine Hand rührte, um mir zu helfen und den Täter oder die Täter zu stoppen.
Ich habe später bei Bertold Brecht darauf eine gute Antwort gefunden, die ich Euch gerne zu lesen geben möchte:
„Eurem Bruder wird Gewalt angetan, und ihr kneift die Augen zu;
Der Getroffene schreit laut auf, und ihr schweigt?
Der Gewalttätige geht herum und wählt sein Opfer
und ihr sagt: uns verschont er, denn wir zeigen kein Missfallen.
Was ist das für eine Stadt, was seid ihr für Menschen?
Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein.
Und wo kein Aufruhr ist, da ist es besser,
dass die Stadt untergeht
durch ein Feuer, bevor es Nacht wird!“
Die Gewalttätigkeiten gegen mich in meiner Kindheit und Jugend sind Vergangenheit, die Wunden vernarbt und ich habe mich mit den Tätern, auch dem oben genannten, versöhnt.
Wichtig ist mir, dass wir heute auch erkennen, dass wir an der Not, dem Elend und der Gewalt in dieser Welt mitschuldig werden, wenn wir nicht Einspruch erheben, wenn es uns möglich ist!
Wichtig ist mir nicht meine Vergangenheit als Kind oder Jugendlicher, sondern dass ich HEUTE mithelfe, dass Kinder und Jugendliche vor Missbrauch und Gewalt bewahrt bleiben. Und solange ich atmen kann, werde ich dazu nicht schweigen.
Ich möchte Euch an dieser Stelle ein Video von Nick Vujicic posten.
Ich sehe mir regelmäßig Videos von ihm an, weil ich durch ihn gelernt habe, dass nicht der Blick auf das, was uns geschehen ist und was wir nicht können, uns vorwärtsbringt, sondern nur der Blick auf das, was wir alles können, und Dankbarkeit für die Möglichkeiten, die wir HEUTE haben.
In dieser Hinsicht ist Nick Vujicic ein ganz großes Vorbild für mich!
Deshalb wünsche ich mir so sehr, dass Ihr, wenn Ihr meine Tagebuchnotizen und später mein Buch DAS ESELSKIND lest, in dem noch viel schlimmere Dinge stehen, nicht feststellt: „Du armer Werner, was hast Du alles erleiden müssen!“, sondern dass das, was Ihr in diesen Tagebuchnotizen lest und in meinem Buch lesen werdet, dazu führt, dass Ihr sagt: „Wir müssen alles, was uns möglich ist, tun, um zu verhindern, dass Kindern heute Ähnliches geschieht.“
Ich wünsche Euch einen guten Start in die neue Woche und grüße Euch herzlich
Euer niemals aufgebender Werner