Tagebuchnotizen zum Buch DAS ESELSKIND - "Vergebung - Wie geht das denn?"


Quelle: Leipzig online


Ihr Lieben,

meine heutigen Tagebuchnotizen zu dem Thema „Vergebung- wie geht das denn?“ möchte ich heute mit einer Geschichte beginnen, die ich schon ein oder zwei Mal erzählt habe, die ich aber heute wegen des Themas am Ende etwas verändert habe:
„Der Korb des alten Mannes“

"Dies ist die Geschichte eines alten Mannes und eines kleinen Jungen. Der alte Mann hieß Sartebus und der Junge Kim. Kim war ein Waisenkind und lebte ganz für sich allein. Er zog von Dorf zu Dorf auf der Suche nach Essen und einem Dach über dem Kopf. Doch es gab noch etwas, nach dem er suchte. Kim suchte nach einer Einsicht.

"Warum", fragte er sich, "sind wir ein Leben lang auf der Suche nach etwas, das wir nicht finden können? Machen wir es uns selbst schwer oder soll es einfach so sein, dass wir uns so plagen?"
Auf seinem Weg traf er eines Tages einen alten Mann, der, so hoffte Kim, ihm vielleicht die eine Antwort geben konnte.
Der alte Mann trug auf seinem Rücken einen großen, zugedeckten, geflochtenen Korb, der sehr schwer zu sein schien. Eines Tages machten sie Rast an einem Bach. Der alte Mann stellte erschöpft seinen Korb auf den Boden. Er schien so schwer zu sein, dass selbst ein viel jüngerer und stärkerer Mann ihn wahrscheinlich nicht sehr lange hätte tragen können.

"Weshalb ist denn Dein Korb so schwer?" fragte Kim Sartebus. "Ich würde ihn gerne für Dich tragen." "Nein, den kannst Du nicht für mich tragen", antwortete der alte Mann. "Den muss ich ganz alleine tragen."

Viele Tage und Wege gingen Kim und der alte Mann zusammen. So sehr er sich auch bemühte, er konnte nicht herausfinden, was für ein schwerer Schatz sich wohl in dem Korb befand. Erst als Sartebus nicht mehr weitergehen konnte und sich ein letztes Mal zur Ruhe legte, erzählte er dem jungen Kim sein Geheimnis.

"In diesem Korb", sagte Sartebus, "sind all die Dinge, die mir in meinem Leben angetan wurden, ich schleppe mit mir die Erinnerungen an all die Entmutigungen, all die Schläge, die ich als Kind und Jugendlicher bekam, all die Zurückweisungen und Ungerechtigkeiten, all die Beleidigungen und bösen Worte, all die Gewalt, die gegen mich ausgeübt wurde.“
Ohne diese schwere Last der Vergangenheit hätte ich meinen Lebensweg leicht und glücklich gehen können, aber ich war nicht bereit, mich von meiner Last zu trennen."

Ihr Lieben,

Bonhoeffer hat die Vergebung einmal so beschrieben:

„Die Vergebung ist die Beendigung meiner ganzen heillosen, verfahrenen, gescheiterten Vergangenheit und das Geschenk eines neuen fröhlichen Anfangs meines Lebens.“
Um zu verdeutlichen, wie Vergebung aussieht und wie Vergebung gelingen kann, möchte ich Euch zunächst eine kleine Begebenheit aus meiner Jugend erzählen, als ich in der Schulklasse war, die mich allein wegen meiner Herkunft und meines kindlichen Aussehens bestialisch quälte:

Auf einer Klassenfete, zu der mich die Klasse nach einer Phase der Ruhe eingeladen hatte, kam man wieder einmal auf die Idee, mich nackt auszuziehen. Diese Demütigung bereitete ihnen die meiste Freude.
Dann kam jemand auf die Idee, mir den Mund mit einem Knebel zu verschließen, mich am ganzen Körper mit Juckpulver (das man damals noch in kleinen Tütchen kaufen konnte) einzureiben und mir an alle möglichen und unmöglichen Stellen Wäscheklammern anzuklammern.

Die Wäscheklammern hinterließen kaum sichtbare Spuren, aber die entsetzliche Qual, die ich dann etwa eine Stunde aushalten musste, brachte mich fast an den Rand des Wahnsinns.

Diese und ganz viele andere Begebenheiten belasteten mich auch dann noch, als die Taten längst vorüber waren und ich der Klasse längst entkommen war. Ich trug wie der alte Mann in der Geschichte eine schwere Last mit mir herum.

Eines Tages aber wurde mir klar, dass ich nur zwei Möglichkeiten hatte:

Entweder aufzugeben und unter der Last der Erinnerungen zusammenzubrechen oder aber mich von der Last zu befreien.
Das Wort Ver-gebung bedeutet, etwas weg zu geben.

Bei der Vergebung, über die ich heute schreibe, geht es mir nicht um die Täter, die leiden oft gar nicht unter dem, was sie getan haben, mir geht es um die Opfer, die sich oft niemals mehr von dem erholen, was sie erlebt haben.
Vergebung bedeutet, die Last der Erinnerungen hinzustellen und befreit und unbelastet in das Leben des HEUTE hinein zu schreiten.Wie macht man das konkret?“, das fragen mich immer wieder Menschen.
Das Rezept ist eigentlich ganz einfach:
Es handelt sich nicht um einen Zauber, sondern um ein ganz simples Training!
Jeder von Euch, der etwas für seine körperliche Fitness tun möchte, überlegt, welche Sportart ihm gefallen würde und dann fängt er an, Fahrrad zu fahren, zu joggen, spazieren zu gehen, schwimmen zu geben oder wozu er sonst Lust hat.
Wichtig ist das mäßige, aber regelmäßige Training und am Ende fühlt man sich richtig gut, weil man fit ist.
Das Geheimnis besteht nun darin, dass wir unseren Geist ebenso trainieren können wie unseren Körper. Und nun will ich Euch erzählen, wie ich vorgegangen bin:
Ich habe mir eines Tages einen kleinen schweren Buchtresor besorgt, der äußerlich wie ein Buch aussieht. Innen drin enthält dies „Buch“ aber keine Seiten, sondern eine Metallkassette.

In diese Kassette habe ich eine Liste, die über die Jahre lang und immer länger wurde, gelegt, in der all das verzeichnet ist, was mir jemals angetan wurde. Durch diese Liste sind diese Erinnerungen alle festgehalten, aber gleichzeitig sind sie von mir getrennt.

Wenn mich heute Erinnerungen übermannen wollen, dann fange ich an zu trainieren und sage jedes Mal zu mir selbst:
Die Erinnerungen sind da, aber sie sind kein Teil meines heutigen Lebens mehr, sie dürfen mich nicht mehr beherrschen, sie sind ein Teil meines abgeschlossenen früheren Lebens.
Und dann nehme ich ganz bewusst die Liste der Erinnerungen in die Hand, blättere kurz darin und lege sie dann zurück in den Buchtresor und verschließe diesen wieder, stelle ihn zurück ins Buchregal und trenne ich mich auf diese Weise sichtbar wieder von der Last meiner Erinnerungen.

Wer das immer dann praktiziert, wenn Erinnerungen in ihm hochkommen oder ihn übermannen, der kann fröhlich und unbeschwert in sein Leben hinein schreiten, unbelastet von den Lasten der Vergangenheit .

 

Und dies ist das zweite Geheimnis:
Je weniger wir uns mit der Last der Vergangenheit beschäftigen, desto weniger wird sie uns belasten. Und je mehr wir uns stattdessen auf unsere Stärken, auf unser heutiges, unbelastetes Leben konzentrieren, desto mehr und desto glücklicher wird es sich entfalten.

Ich kann jedem, der unter den Lasten der Vergangenheit leidet, nur empfehlen, sich auch solch eine Kassette, eine kleine Kiste oder dergleichen anzuschaffen und dort eine Liste der Lasten der Vergangenheit hineinzulegen und er wird den Zauber verstehen, der darin besteht, dass wir beginnen, - wenn wir das tun -, uns von den Lasten der Vergangenheit zu befreien.
Der Satz: Vergeben und Vergessen ist allerdings, - entschuldigt bitte meine harte Ausdrucksweise – völliger Blödsinn!
Was einem angetan wurde, kann man vergeben, aber niemals vergessen!

Aber – und das ist das Entscheidende:
Es ist eben ein lebensbefreiender oder lebensbelastender Unterschied, ob ich die Last hinstelle und ab und zu betrachte, während ich mein Leben unbelastet genieße, oder ob ich täglich morgens nach dem Aufstehen wieder meine Last der bösen Erinnerungen auf meine Rücken packe.

Ich wünsche jedem von Euch, der unter den Lasten der Vergangenheit leidet, dass es ihm gelingen möge, sich davon zu befreien und fröhlich und befreit seinen Weg zu gehen.

Aber – es erscheint kein Engel, der Euch die Vergebung auf dem Silbertablett serviert, sondern Ihr müsst bereit sein, dafür etwas zu tun, indem Ihr das Nicht-Wieder-Aufnehmen der Last trainiert.
Ganz liebe Grüße

Euer befreiter Werner

Befreit und unbeschwert wie ein Vogel



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