Werner im Alter von 14 Jahren
Ihr Lieben,
Ich habe in meiner Kindheit regelmäßig Schläge zuhause und in der Schule bekommen.
Zuhause meist mit einem Teppichausklopfer oder mit einem Kleiderbügel, in der Schule mit einem Stock (Lehrer) oder mit einer Hand (als Faust geballt von Schülern).
Diese Schläge waren oft brutal und heftig, aber die Schmerzen vergingen und die Wunden vernarbten mit der Zeit.
Das, was mich viel mehr verletzt hat, waren die viel häufigeren Demütigungen, die keine körperlichen Schmerzen verursachten, sich aber in meine kindliche und jugendliche Seele einbrannten.
Das begann damit, dass bei Schlägen zuhause oder in der Schule durch Lehrer nicht, wie man das früher bezeichnete, „die Hose stramm gezogen wurde“, sondern dass in demütigender Weise vor der ganzen Klasse die Hosen heruntergezogen wurden und dann die Strafe erfolgte. Dieser Raub der Scham war unendlich viel schlimmer als die eigentlichen Schläge.
Aber da gab es in der Schule auch die weiteren alltäglichenDemütigungen. In der schlimmen Klasse, der ich vier Jahre lang ausgeliefert war, wurde ich nur selten mit meinem Vornamen angeredet, viel beliebter waren Schimpfwörter wie „kleine Sau, Hosenscheißer, Bettnässer usw.“, welche voneinigen Lehrern gerne übernommen wurden.
In den Pausen war es auf dem Schulhof ein regelmäßiges Vergnügen meiner Klassenkameraden, mir entweder so viel Angst zu machen, dass ich in die Hose pinkelte, um mich dann dem Gespött der anderen Schüler preiszugeben, oder mich mit mehreren Schülern festzuhalten und mir dann die Hosen herunterzuziehen und ein Wiederheraufziehen unmöglich zu machen, um sich dann am Gelächter der anderen Schüler zu ergötzen.
Bei einigen Lehrern war es sehr beliebt, mich als „dumm“, als „zu dumm“, als „lebensunwürdig“ (wörtlich: „Deine Mutter hätte ein gutes Werk getan, wenn sie Dich hätte abtreiben lassen!“) zu bezeichnen und mir eine rabenschwarze Zukunft zu prophezeien, denn aus mir werde nie etwas Gescheites.
Und diese Demütigungen setzten sich zuhause fort, wo ich ständig zu hören bekam, dass ich als Superspätentwickler einfach lächerlich aussehen würde und dass aus mir ganz bestimmt nie ein richtiger Mannwerden würde. Machte ich einmal etwas falsch, wurde das gleich verallgemeinert: „Du taugst aber auch gar nichts.“ „Mit Dir hat man nur Ärger.“ „Du hast zwei linke Hände.“ „Immer machst Du alles kaputt.“ „Du machst einem nur Sorgen.“
Ich begegne heute in meinem Alltag oft jungen Eltern, die sich bereits für ganz tolle Eltern halten, weil sie ihre Kinder nicht schlagen, die aber nicht begreifen, dass sie durch ihre Art, mit ihren Kindern zu reden, diese ständig demütigen.
Ständige Entmutigungen sind nämlich auch nichts anderes als eine Art Demütigung.
Aber warum verursachen die Demütigungen so furchtbare innere Verletzungen an der kindlichen und jugendlichen Seele, die oft wie schwerer sind als die Verletzungen durch Schläge?
Ich denke, dass das vor allem damit zu tun hat, dass wir als Kinder und Jugendliche von unserer Umgebung, zunächst den Eltern und später den Lehrern und Mitschülern, Ermutigung und Bestätigung unserer Person erwarten.
Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher nun ständig entmutigt oder gedemütigt wird, dann zerbricht sein Rückgrat, sein Selbstbewusstsein kommt nicht zur Entfaltung und er glaubt am Ende das, was man ihm erzählt.
Denn das ist das besonders Fatale:
Wenn man ständig entmutigt und gedemütigt wird, dann glaubt man am Ende:
„Es können sich ja nicht alle irren, es liegt sicher an mir, dass ich gedemütigt und entmutigt werde, ich bin sicher selber schuld!“
Denn diese Entmutigungen und Demütigungen kommen ja eben nicht von fremden Menschen, sondern aus dem engen Umkreis der Kinder und Jugendlichen.
Wenn diese Kinder und Jugendlichen keine Hilfe bekommen, ist ihr Weg ins Scheitern als Erwachsener vorgezeichnet.
Ich bekomme aus dem Kreis der ESELSKIND-Blogleserinnen und Blogleser täglich E-Mails und Nachrichten, in denen die Freude über meine Geschichten, die ich erzähle, zum Ausdruck kommt.
Gleichzeitig werde ich sehr gelobt dafür, dass ich heute ein so fröhlicher, lebensbejahender Mensch bin, der seinen Lebensinn darin sieht, anderen Menschen und sich Freude zu bereiten.
Aber, so lieb das gemeint ist, dieses Lob gebührt mir nicht!
Ohne die feinen Menschen, die mir in meiner Kindheit begegneten, wie meine geliebte Oma, mein Jugendfreund Hans-Christoph und meine kleine erste Freundin, die in mir das Licht der Liebe entzündet haben, würde ich heute gar nicht mehr leben.
Deshalb verweise ich immer besonders auf meinen Jugendfreund Hans-Christoph, denn dessen Einsatz kann ich gar nicht hoch genug einschätzen:
Er wusste mit seinen jungen Jahren, dass er nicht mehr lange zu leben hatte aufgrund seiner äußerst schweren Asthmaerkrankung.
Aber statt sich zu schonen, sah er es als seine Aufgabe an, andere Menschen zu trösten, brachte er mir bei, niemals aufzugeben, brachte Frohsinn und Lebensfreude in mein Leben, lehrte mich, die Menschen zu lieben und immer an das Gute im Menschen zu glauben, auch gegen allen äußeren Anschein. Und er überzeugte mich von der Heilkraft der Versöhnung.
Er war eine dieser wundervollen Kerzen, die die Welt mit ihrem Licht ein wenig heller und wärmer machen. Allerdings war er so erfüllt von seiner Mission, dass er eine Kerze war, die an beiden Seiten brachte.
Ich habe unendlich viel von ihm gelernt und ich versuche heute nur, ein wenig von dem an andere Menschen weiterzugeben.
Das, was ich heute tue, ist also keine Leistung, es sind vor allem Dankbarkeit, die ich empfinde, Freude, die ich spüre, Liebe, die mein Herz erfüllt.
Die größte Freude heute wäre für mich, meinem Jugendfreund Hans-Christoph noch einmal zu begegnen und ihm zu danken für alles, was er für mich getan hat.
Denn das ist das Allerwichtigste, das mich auch dazu bewogen hat, das Buch DAS ESELSKIND zu schreiben, und das mich täglich dazu veranlasst, auf den ESELSKIND-Blog Geschichten zu schreiben, dass wir nicht bei unseren Demütigungen und Entmutigungen stehen bleiben, sondern uns der Gegenwart und Zukunft zuwenden und selbst dazu beitragen, dass Menschen ermutigt, geliebt und gestärkt werden.
Ich wünsche Euch nun einen fröhlichen Abend und grüße Euch herzlich und humorvoll mit einem Lied von Reinhard Mey aus Bremen
Euer heiterer Werner