Ihr Lieben,
ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei all denen bedanken, die mir so zahlreich und so mitfühlend auf meine Tagebuchnotizen mit einer Nachricht oder einer E-Mail antworten! Ich danke Euch sehr dafür und ich freue mich sehr darüber.
Besonders häufig wurde mir die Frage gestellt, wie es gelingen kann, solche Zeiten der Gewalterfahrung zu überleben und zu einem fröhlichen Menschen heranzuwachsen.
Ich habe in meinen letzten Tagebuchnotizen und auch heute in den beiden Morgengeschichten von der psychischen und physischen Gewalt, der ich in meiner Schule über einen Zeitraum von vier Jahren ausgesetzt war. Ein Junge tat sich dabei besonders hervor. Er hat regelrecht Lust dabei empfunden, - wie er mir später berichtete -, mich besonders fies und gemein zu quälen und für ihn war es das Beste (heute würde man sagen "Geilste"), wenn es ihm gelang, mich durch Schläge und Folter derartig in Angst und Schrecken zu versetzen, dass ich in die Hose machte.
Viele, viele Jahre später bin ich auf ihn zugegangen und wir haben uns ausgesprochen und ich habe verstanden, warum er damals so gehandelt hat. Vor allem habe ich begriffen, dass er heute ein ganz anderer Mensch ist und dass er sich für das, was er damals getan hat, zutiefst schämt.
Wenn ich danach gefragt werde, wie man solch schlimme Gewalterfahrungen überwinden kann, sage ich immer, es gibt vier Möglichkeiten:
1. Man wendet sich in Hass gegen den Täter. Das mag dem Täter schaden, aber vor allem schadet es uns selbst. Der Hass zerfrisst unsere Seele. Wir bleiben Gefangene des Geschehenen.
2. Man verdrängt das, was geschehen ist. Aber das hilft nicht weiter. Eines Tages bricht diese furchtbare Verletzung wieder auf und wir sind dann so verletzt, als wäre uns das Unrecht gerade geschehen.
3. Wir begegnen dem Täter mit Liebe und suchen das Gespräch mit ihm. Aber nicht alle Täter lassen sich auf ein Gespräch ein, das musste ich auch schmerzlich erfahren, als ich mich mit dem Diakon unterhalten wollte, der mich über ein Jahr lang sexuell missbrauchte. Dennoch ist es mir gelungen, ihm innerlich zu verzeihen. Die Verzeihung heilte meine Seele und ermöglichte mir ein fröhliches Leben.
4. Wenn wir das Glück haben, uns mit dem Täter unterhalten zu können und der Täter einsichtig ist, können wir uns sogar mit ihm versöhnen. Die Freude, die bei einer Versöhnung in einem ausbricht, macht die damalige Tat zwar nicht ungeschehen, aber sie deckt sie mit Liebe zu und ermöglicht uns, Liebe an andere Menschen weiterzugeben.
Ihr Lieben,
ich wünsche Euch versöhnliche Ostern und ganz viel Liebe und Freude in Euer Herz
Euer versöhnter und fröhlicher Werner
Verzeihen ist wie ein Gänseblümchen,
das gegen allen Widerstand durchbricht und seine volle Blüte entfaltet:
Alexander Rykow