Quelle: fr-online.de
Ihr Lieben,
heute Abend möchte ich Euch in meinen Tagebuchnotizen zu meinem Buch DAS ESELSKIND aus dem Jahr 1967 berichten. Mein Leben stand im Begriff, nach schrecklichen Jahren der Kindheit und Jugend neu fröhlichere Wege einzuschlagen.
In dieser Zeit hatte ich in meiner Schule die Gelegenheit, dem damaligen Stundentenführer Rudi Dutschke zu begegnen. Es war eine sehr gewegende Zeit.
Ich möchte zwei Zitate aus meinem Buch über Rudi Dutschke hier veröffentlichen:
"Als Rudi Dutschke gemessenen Schrittes unsere Aula betrat und langsam und bedächtig auf das Rednerpult zuschritt, hätte man eine Stecknagel fallen hören können, so ruhig, so still war es, fast andächtig blickten alle Schüler und Schülerinnen nach vorne zur Bühne unserer Aula.
Ich war ein wenig enttäuscht, ich hatte mir Rudi Dutschke wesentlich größer, wesentlich kräftiger, wesentlich imposanter vorgestellt. Nun stand ein Mann vor mir, schlank, drahtig, aber fast ein wenig zerbrechlich. Aber mein erster Eindruck veränderte sich schlagartig, als er seinen Mund öffnete, um zu sprechen.
Sein Charisma, seine Ausstrahlung waren mit den Händen greifbar und wir waren von der ersten Sekunde an wie elektrisiert.
Rudi Dutschke stand schon im Begriff, zu seiner kurzen Rede anzusetzen, als unverhofft unser Lateinlehrer, der stellvertretende Direktor unserer Schule, der ebenfalls in der Aula anwesend war, laut und vernehmlich durch die Aula schrie:
„Herr Dutschke, wer hat Sie überhaupt autorisiert, hier das Wort zu ergreifen?“
Ich an der Stelle von Rudi Dutschke, ich wäre vor lauter Verlegenheit hochrot geworden, ich wäre vor tiefer Scham sicher im Boden versunken, hätte wirr herumgestottert oder mich auf irgendeine imaginäre Person berufen, Rudi Dutschke aber beherrschte die Situation meisterlich. Schlagfertig schleuderte er unserem stellvertretenden Direktorentgegen: „Ich autorisiere mich selber!“
Tosender, orkanartiger Beifall durchflutete in immer neuen aufbrandenden Wellen die Aula und wir sogen wie ein trockener Schwamm alle seine folgenden Worte auf.
Rudi Dutschke sprach übers die Vision eines neuen, moralisch besseren Menschen, ein Mensch, der nicht gesteuert ist aus egoistischen Motiven, sondern der als Mensch solidarisch mit anderen Menschen handelt, sodass mit der Zeit Ausbeutung, Hunger, Elend und Armut auf der Welt verschwinden.
Dutschke wandte sich auf eine ganz besonders eindringliche Weise in seiner kurzen Rede an jeden Einzelnen von uns und er forderte uns wieder und wiederauf, mutig zu sein, mutig für die Veränderung der Gesellschaft zu kämpfen, mutig die harten Widerstände zu überwinden, die sich uns in den Weg stellten undmit klugen, überzeugenden Argumenten für das neue Denken zu kämpfen.
Wichtig sei es, nicht alles auf einmal ändern zu wollen, wichtiger sei es, jeden Tag zu handeln, aber am wichtigsten sei es, Schritt für Schritt mutig voranzuschreiten."
"In stillen Stunden habe ich mich bisweilen nachdenklich gefragt, warum mich Menschen wie John F. Kennedy, Mahatma Gandhi und Rudi Dutschke so beeindruckt haben, ja, warum diese drei in ihrem persönlichen Wesen und in ihren verkündeten Botschaften so unterschiedlichen Menschen mir so sehr zum nachahmenswerten Vorbild wurden.
Ich denke, es lag daran, dass diese drei Menschen alle etwas verkörperten, was mir noch fehlte:
Sie hatten eine persönliche Stärke, sie hatten eine klare Vision, sie gingen unbeirrt ihren Weg, den sie für richtig erkannt hatten."
Ihr Lieben,
dies ist nur ein kleiner Ausschnitt. Warum ich sogar 14 Tage lang jeden Abend demonstrieren gegangen bin und welche engagierte Frau in Bremen dafür sorgte, dass damals die Gewalt nicht erkalierte, darüber berichtet das Kapitel "Drauf haun, Drauf haun" meines Buches DAS ESELSKIND.
Ich wünsche Euch nun einen wirklich guten Abend mit viel Fröhlichkeit und tiefen Glücksgefühlen
Euer zuversichtlicher Werner
Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt