Mittwoch. Es soll ein wirklich grimmiger Tag werden! Die Nachrichtenlage verdüstert sich fast stündlich, der Tsunami an alarmierenden Entwicklungen ist so gnadenlos, dass ich kurz nach 11 Uhr plötzlich mit Symptomen einer milden Panikattacke konfrontiert bin.
Wenigstens nicht das Virus, spreche ich mir in den nervenaufreibenden Momenten selbst Mut zu. Nach einer Weile ist der Spuk vorbei...
Überhaupt: Das Virus! Jedes kleinste Halsweh, geringste Kopfscherzen oder mal ein Durchfall lösen fast panische Gefühle aus. Ich wüsste auch nicht einmal, wo ich mich im Ernstfall in Selbstquarantäne stecken sollte, in New York fehlt einfach beim Wohnen das Extrazimmer... Als Hypochonder hat man es nicht leicht gerade.
Sicher, ich habe sehr früh und konzentriert aufgepasst, nichts angefasst, Abstand gehalten. Doch sicher ist nichts: Eine Fahrt mit einem Aufzug könnte reichen für die Übertragung.
Eine E-Mail von „WeWorks" erreicht mich. In einem der Standorte, 25 Broadway, habe ich sonst einen Schreibtisch: Bei einer Person hätte es einen positiven Corona-Test gegeben, wird mitgeteilt. Am 6. März hätte der oder die Infizierte dort zuletzt gearbeitet. Ich kalkuliere im Kopf prompt Inkubationszeiten.
Seit der Vorwoche arbeite ich natürlich längst zu Hause, letzten Donnerstag schleppte ich meinen großen Computerschirm heim.
Jetzt, nachdem das Testen im vollen Umfang begonnen hat, wird klar, wie weiterverbreitet das Virus in New York ist. Oder schon vor Wochen war, als die Krise noch weit entfernt in China oder Europa wütete. An diesem Tag jedenfalls schnellen die Infektionszahlen auf mehr als 1.800 hoch, tausend Angesteckte mehr als vor 24 Stunden.
Ein Freund schickt mir ein abfotografiertes Poster zu, aus dem hervorgeht, dass die Krise bereits das ganze Spitalssystem an die Kippe treibt: „NY sucht gerade in Pension gegangene Professionelle des Gesundheitswesens, um Kranke zu betreuen", ist zu lesen.
Der Verkehr auf der West Street vor unserem Apartmentgebäude ist fast gänzlich ausgedünnt. Statt dem Verkehrslärm und den Trillerpfeifen der Verkehrspolizisten höre ich plötzlich zum ersten Mal Vogelgezwitscher. Schön eigentlich.
Fast menschenleer ist der Platz vor dem New York Stock Exchange an der Wall Street, wo ich eine Live-Schaltung mache mit Updates über einen neuerlichen, schwarzen Börsentag. Eine offenbar verwirrte Frau brüllt unweit von mir einen Polizisten an, der es geduldig über sich ergehen lässt. Zumindest diese Szene erinnert an frühere, normalere Zeiten in New York.
Ein kleiner Spaziergang mit meiner Tochter und meiner Frau kann nicht schaden, noch ist der Gang ins Freie ja erlaubt. Der Battery Park, sonst voller Touristen-Schlangen für die Fähre zur Freiheitsstatue, ist völlig verwaist. Eichhörnchen, die sonst gefüttert werden von den Menschenmassen, laufen uns fast nach. Verwirrt scheinen sie, so nach dem Motto: Wo sind alle? Trügerisch friedlich ist es in dem Park. Man möchte am liebsten dort bleiben und den Kopf in den Sand stecken. Für eine Weile zumindest.
Nur wenige Klicks auf Websites nach unserer Rückkehr in die Wohnung reichen, um von der Realität eingeholt zu werden. An diesem Abend scheint die Suche nach irgendwelchen Hoffnungsschimmern aussichtslos.
Herbert Bauernebel lebt mit seiner Familie in Lower Manhattan. In diesem Tagebuch wird der Alltag in New York während der schlimmsten Krise unseres Lebens in persönlichen Anekdoten beschrieben. Dienstag, 17. März