Tag des Kanji des Jahres – das japanische Kotoshi no kanji

Seit 1995 steht der 12. Dezember bei unseren asiatischen Nachbarn in Japan ganz im Zeichen der Schriftzeichen. Denn an diesem Datum veröffentlicht die japanische Kanji Proficiency Society (jap. (財団法人日本漢字能力検定協会 - Zaidan hōjin Nihon Kanji Nōryoku kentei kyōkai) im Rahmen einer festlichen Zeremonie im buddhistischen Kiyomizu-dera Tempel (jap. 清水寺) die Ergebnisse der landesweiten Abstimmung zum Kanji des Jahres (jap. 今年の漢字 - Kotoshi no kanji). Umgangssprachlich ist dieses Ereignis auch als japanischer Tag des Kanji bekannt, weshalb es auch unter diesem Namen in Sammlung der kuriosen Feiertage aus aller Welt aufgenommen wird.

Was sind überhaupt Kanjis?

Insgesamt existieren heute über 50.000 verschiedene japanische Schriftzeichen, von denen aber - ähnlich wie im Chinesischen - lediglich 2000 bis 3000 im allgemeinen Sprachgebrauch auftauchen bzw. genutzt werden. Mit einem solchen Wortschatz dürfte man also in Japan schon sehr, sehr weit kommen. 😉

Unter dem Begriff Kanji (jap. 漢字 kanji) versteht man die japanische Bezeichnung für chinesische Schriftzeichen, die auch in der Schriftsprache Japans vorkommen.

Dabei leitet sich der Name von der chinesischen Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) ab, unter der das erste Lexikon der chinesischen Schriftsprache (das Shuowen Jiezi) entstand (siehe für ein vergleichbares Vorgehen dazu auch exemplarisch den Beitrag über den südkoreanischen Hangeul-Tag, den Tag des koreanischen Alphabets (korean. 한글날 - Hangeullal) am 9. Oktober). Dies war u.a. auch das Ergebnis der Bestrebungen der vorherigen Qin-Dynastie (221-207 v. Chr.), unter deren Ägide die chinesische Schrift vereinheitlicht wurde. Nicht umsonst sprechen die Chinesen mit Blick auf ihre Schriftzeichen auch heute noch von汉字 (hànzì - dt. Zeichen der Han).

Im Laufe der Zeit haben sich hier aber natürlich einige Unterschiede zwischen China und Japan ergeben. Folgende Aspekte lassen sich bezüglich der japanischen Kanji herausstellen:

  • Beginnen wir mit dem offensichtlichsten Unterschied. Trotz gemeinsamer Wurzeln sind Chinesisch und Japanisch zwei unterschiedliche Sprachen, die sich eben auch in der Aussprache vieler Begriffe bemerkbar macht.
  • Im Gegensatz zu häufig kolportierten Aussage wurde nicht alle chinesischen Schriftzeichen ins Japanische übernommen. Zwar bilden diese nach wie vor die Basis, im faktisch hat man in Japan aber auch zahlreiche eigenständige Zeichen, die sogenannten Kokuji (jap. 国字 - dt. Landeszeichen) entwickelt.
  • Während die Chinesen wirklich alle Wörter in ihre Schriftzeichen schreiben, reduziert man in Japan die Verwendung von Kanjis auf die bedeutungstragenden Elemente (z.B. Nomen und der Stamm der Verben und Adjektive), die dann um die Morenschriftzeichen Hiragana und Katakana ergänzt bzw. erweitert werden.
  • Ähnlich wie in China wurden auch in Japan die relativ komplexen traditionellen Langzeichen im Laufe der Zeit deutlich vereinfacht. Die letzte Änderung in Japan erfolgte 1946, wobei in diesem Kontext anzumerken ist, dass hier keine einheitliche Vorgehensweise zwischen den Sprachen existiert. So liegen bis heute noch viele Schriftzeichen in drei Varianten vor: als Langzeichen (Taiwan, Hongkong, Korea), Kurzzeichen (Volksrepublik China, Singapur) und als japanische Variante (Shinjitai).

Wer hat den japanischen Kanji-Tag ins Leben gerufen?

Wie einleitend bereits angemerkt geht die Initiative für den heutigen Kanji-Tag auf die Kanji Proficiency Society und das Jahr 1995 zurück. Ähnlich der Wahl zum Wort bzw. Unwort des Jahres in Deutschland stellt man hier jedes Jahr mehrere japanische Schriftzeichen in einer landesweiten Abstimmung zu Wahl, die einen Bezug zu den jeweiligen Ereignissen des Jahres haben.

Das Ergebnis der Wahl präsentiert man dann in einer festlichen Zeremonie im buddhistischen Tempel Otowasan Kiyomizudera (jap. 清水寺) in Ost-Kyōto, der landesweit als eine der berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Stadt bekannt ist (siehe für Fotos dieser Zeremonie auch den unten verlinkten Artikel der japanischen Ausgabe der Huffingtonpost).

Nur warum man sich seitens der Initiatoren hier ausgerechnet den heutigen 12. Dezember als Datum ausgesucht hat, konnte ich im Zuge der Recherchen für den vorliegenden Beitrag nicht herausfinden. Zumindest reichen hierfür meine Japanisch-Kenntnisse nicht (siehe dazu auch die Liste weiterführender Links unten). Mit dem ebenfalls heute begangenen US-amerikanischen Tag des Weihnachtssterns (engl. Poinsettia Day) oder dem Lebkuchenhaus-Tag (engl. Gingerbread House Day) scheint es jedenfalls nichts zu tun zu haben. 😉

Die Liste aller Kanjis des Jahres seit 1995

Im Gegensatz zur Wahl des Datums sind die jeweiligen Kanji des Jahres natürlich hervorragend dokumentiert, wobei mit Blick auf die Gesamtheit auffällt, dass man hier inhaltlich ein sehr breites Spektrum abdeckt.

  • 1995: 震 shin - Erdbeben: Aufgrund des schweren Erdbebens von Kōbe vom 17. Januar 1995 wurde dieses Schriftzeichen gewählt.
  • 1996: 食 shoku - Essen, Lebensmittel: In diesem Jahr waren zahlreichen Fälle von Lebensmittelvergiftungen durch das Bakterium E. coli O157 in Schulessen aufgetaucht.
  • 1997: 倒 tō - Kollaps, Zusammenbruch, aber auch: besiegen. Hier als doppelter Bezug auf die asiatische Banken- und Finanzkrise des Jahres 1997 und die unerwartete Siegesserie der japanischen Fußballnationalmannschaft im Zuge der Qualifikation zur WM 1998 in Frankreich.
  • 1998: 毒 doku - Gift. Auch hier wieder ein Bezug zum Essen. Denn in diesem Jahr mussten 67 Menschen mit Lebensmittelvergiftungen ins Krankenhaus eingeliefert werden, von denen vier letztendlich auch verstarben. Ursache war hier eine mutwillige Vergiftung von Curry durch die Japanerin Masumi Hayashi.
  • 1999: 末 sue - Ende. Das letzte Jahr des Jahrhunderts, in dem der Nuklearunfall von Tōkaimura stattfand.
  • 2000: 金 kin - Gold. Hier gibt es aus Sicht der Abstimmenden gleich mehrere Bezüge: Die japanischen Athleten Ryoko Tamura (Judo) und Naoko Takahashi (Marathon) gewinnen Gold bei den Olympischen Sommerspielen in Sydney. Kim Dae Jung und Kim Jong-il halten das erste Nord-Süd-koreanische Präsidententreffen ab, die Hundertjährigen Zwillingsschwestern Kin-san und Gin-san (phonetisch ähnlich mit den Wörtern Gold und Silber) sterben und die erste japanische ¥2.000 Banknote wird gedruckt.
  • 2001: 戦 sen - Kampf. Auch Japan nimmt Bezug auf die New Yorker Anschläge vom 11. September, bezieht sich zugleich aber auch auf den militärischen Einsatz der USA in Afghanistan und der globalen Rezession.
  • 2002: 帰 ki - Rückkehr: Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und Nordkorea, in deren Rahmen auch fünf japanische Staatsbürger freigelassen werden und in die Heimat zurückkehren können.
  • 2003: 虎 tora - Tiger. Das Baseball-Team der Hanshin Tigers gewinnt erstmals seit 18 Jahren wieder die Meisterschaft der japanischen Central League. Eine weitere Referenz bezieht sich bei diesem Kanji aber auch auf den Eintritt der japanischen Armee in den Irak-Krieg. Da diese seit dem Zweiten Weltkrieg bis dato nur zur Verteidigung des Landes eingesetzt werden durfte/sollte, sprachen viele Japaner auch von einem Tiger auf den Schwanz treten.
  • 2004: 災 sai - Desaster, Katastrophe: Kein gutes Jahr für das Land der aufgehenden Sonne. Denn neben dem Chūetsu-Erdbeben vom 23. Oktober, hatte man auch mit den Folgen des Taifuns Tokage am 12. Oktober, einem schweren Störfall im Kernkraftwerk Mihama am 9. August und einer schweren finanziellen Krise des Autokonzerns Mitsubishi Motors zu kämpfen.
  • 2005: 愛 ai - Liebe. Prinzessin Nori heiratet Yoshiki Kuroda und Japan veranstaltet die Expo 2005 in Aichi.
  • 2006: 命 inochi - Leben: Die kaiserliche Familie bekommt Nachwuchs. Denn am 6. September erblickt Prinz Hisahito von Akishino das Licht der Welt.
  • 2007: 偽 nise - Täuschung. Ein weiterer Lebensmittelskandal erschüttert das Land. Dieses Mal sind es falsch ausgezeichnete bzw. abgelaufene Waren in den Supermärkten. Darüber hinaus kommen eine ganze Reihe von Ungereimtheiten bei der Vergabe politischer Spenden und Pensionszahlungen ans Tageslicht.
  • 2008: 変 hen - Wechsel, Veränderung: Japan wählt in diesem Jahr einen neuen Premierminister, zugleich aber auch eine Referenz an den Wahlslogan des neuen US-Präsidenten Barack Obama, dessen Kampagne unter dem Leitmotiv Change lief.
  • 2009: 新 shin - neu. Nach über 50 Jahren in der Opposition gewinnt die Demokratische Partei erstmals die Wahlen und kommt an die Regierung.
  • 2010: 暑 sho - heiß, Hitze: Neben dem Jahrhundertsommer mit Rekordtemperaturen erinnert dieses Kanji des Jahres 2010 aber auch an das Grubenunglück in einer chilenischen Mine, bei dem Bergleute in 700 Metern mit wenig Sauerstoff und hohen Temperaturen eingeschlossen wurden.
  • 2011: 絆 kizuna - Verbundenheit. Anlässlich des Tōhoku-Erdbebens vom 11. März 2011 soll mit diesem Kanji die Verbundenheit der Japaner als Nation unterstrichen werden. Darüber hinaus gab es mit dem Titelgewinn der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen in Deutschland einen Grund zum Feiern. Auch Teamgeist zählt man hier zur Kategorie der Verbundenheit.
  • 2012: 金 kin - Gold: Nach 2000 bereits zum zweiten Mal zum Kanji des Jahres gewählt und damit das einzige japanische Schriftzeichen mit einer Mehrfachnennung. Dies aber aus gutem Grund. Denn neben diversen Goldmedaillen bei den Olympischen Sommerspielen in London feierte Japan auch die Verleihung des Medizin-Nobelpreises an den Arzt und Stammzellenforscher Shin'ya Yamanaka.
  • 2013: 輪 rin - Rad, Kreis, Ring. Japan erhält den Zuschlag für die Ausrichtung der olympischen Sommerspiele im Jahre 2020. Hier auch als Referenz an den japanischen Begriff für Olympiade: 五輪 (itsutsu rin), der wörtlich übersetzt fünf Ringe bezeichnet.
  • 2014: 税 zei - Steuer: Erhöhung der Mehrwertsteuer von 5% auf 8%.
  • 2015: 安 an - Sicherheit. Anlässlich der Explosion auf dem Gelände des Yasukuni-Schreins, dem Terroranschlag von Paris und dem Erlass des State Secrecy Law stellte Japan dieses Jahr unter das Schriftzeichen für Sicherheit.
  • 2016: 金 kin - Gold: Und zum dritten Mal Gold. Auch in diesem Jahr wieder mit Bezug zur den gewonnen Goldmedaillen bei den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro, aber auch als Referenz an den Wechsel zu Negativzinsen, Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten (blonde Haare heißen im Japanischen金髪 (kinpatsu) und dem japanischen Comedian Piko Taro, der goldene Bühnenoutfits mit Tiermustern trägt.
  • 2017: 北 kita - Norden. Neben den nordkoreanischen Raketen- und Atomtests des Jahres 2017 bezieht sich das diesjährige Kanji aber auch auf die schweren Regenfälle und Unwetter im nördlichen Kyushu.

In diesem Sinne: Euch allen ein tolles Kotoshi no kanji. Egal ob in Japan, in Deutschland oder sonst wo auf der Welt.

Weitere Informationen zum Kotoshi no kanji in Japan


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