Im Halbdunkel haben wir am Vorabend den Weg vom Kap Finisterre zurück zur Herberge gefunden und waren sehr froh, nicht bis zum letzten Sonnenstrahl in den Klippen ausgeharrt zu haben. Mit meinem schlimmen Knie und einem bei schlechter Sicht eher unsicheren Weg wäre ein Rückweg in der Dunkelheit und nur mit den iPhone-Taschenlampen nicht ganz so prickelnd. Unsere Stirnlampen haben wir beide nämlich mal schön auf dem Zimmer vergessen.
Früh zieht es uns an diesem Morgen auf den Weg, mein Knie macht eben Sorgen und wir werden mit Sicherheit nicht so schnell voran kommen wie in den vergangenen Tagen. Dennoch sind es etwas über 30km, die vor uns liegen und zu spät ankommen möchten wir ja auch nicht. Zum einen wollen wir die Wallfahrtskirche Santuario da Virxe da Barca an der Küste sehen und Muxía erleben, aber auch Jane und Erin noch einmal treffen, die gestern Vormittag direkt in Richtung Muxía abgebogen sind und dort einen Tag bleiben wollen, bevor sie nach Finisterra laufen und dort auf Nancy treffen.
Der Weg führt aus Finisterre hinaus über Waldwege und wenig befahrene Landstraßen, der Nebel steht zwischen den Bäumen und schafft mit den tief hängenden Wolken ein außergewöhnlich mystisches Bild. Wir wissen nicht recht, für welche Bekleidung wir uns entscheiden sollen: Die Regenjacke schützt vor der merklichen Feuchtigkeit, ist aber so warm, dass sie gleichzeitig eine Sauna schafft. Die Brillen beschlagen wieder, einer von beiden sieht den Weg aber immer irgendwie und so kommen wir erstaunlich gut voran. Ich trage seit meinem ersten Tag des Camino de la Costa von Irun nach San Sebastian das erste Mal wieder meine Kniebandage und zusammen Gerts Voltaren funktioniert das Knie erstaunlich gut. Ich merke es, ohne Frage. Aber es funktioniert. Vor allem bergauf und auf gerader Strecke macht es wenige Probleme, wir wissen aber beide, dass das ‚Bergab‘ noch bevorsteht. Und dass es auch am heutigen Tag nicht ohne sein wird.
Während des gesamten Tages treffen wir immer wieder auf die gleichen drei / vier Pilger, wir überholen uns gegenseitig. Erstaunlicherweise sind es mehr Menschen, die uns entgegen kommen, dabei auch bekannte Gesichter der vergangenen Tage und es fühlt sich sehr komisch an, nach so vielen Kilometern und Tagen Menschen entgegen kommen zu sehen und sich dabei nicht verwundert zu fragen, ob sie sich verlaufen haben oder auf dem Rückweg ihrer Pilgerreise nach Hause sind. Für uns war von Anfang an klar, erst nach Finisterre zu laufen und anschließend Muxía als Bonus noch mitzunehmen. Viele Mitpilger sehen Finisterra, das Ende der Welt, auch als ultimatives Ende ihrer Pilgerreise an und wählen diesen Ort eben als Schlusspunkt. Die Pfeile auf dem Boden und den Steinen weisen heute in beide Richtungen, jeweils mit einem F oder einem M als Zielpunkt.
Wieder gibt es Wegalternativen: Die Variante an der Küste ist 900m länger und bietet schöne Ausblicke. Aufgrund des Wetters und meines Knies entscheiden wir uns für den inneren und damit kürzeren Weg. In einem kleinen Dorf suchen wir für einen Moment die Pfeile und Richtungsweiser, finden sie wieder und stellen nach einigen hundert Metern dank Google Maps fest, dass wir nun scheinbar doch auf die Küstenvariante gewechselt sind. Nun ja, dann ist das halt so – umdrehen kommt nicht in Frage und ich kann stänkern, dass ich bei der Diskussion um den richtigen Weg recht hatte.
Um die Urkunde zu erhalten, müssen die Pilger auf dem Weg nach Finisterra jeden Tag einen Stempel sammeln um nachzuweisen, dass sie den Weg auch wirklich bestritten haben und nicht etwa den Bus genommen haben. Auf dem Weg von Finisterra nach Muxía gibt es nur eine wirkliche Stadt, in der der wichtige Stempel gesammelt werden muss, um auch an diesem Ziel eine weitere Urkunde zu erhalten. Als wir am wolkenverhangenen und nebeligen Strand von Lires ankommen, stehen wir vor einer Strandbar, die auch in meinem Reiseführer angepriesen wird. Den ersten Kaffee hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht, sodass diese Bar eine wahre Einladung ist und meinem Knie tut eine kleine Pause auch ganz gut; auch unseren Stempel erhalten wir hier. Und wenn das Wetter eher an die Ostsee erinnert, genießen wir den Ausblick auf die See und den breiten Strand, der bei schönem Wetter sicherlich grandios ist!
Lange verharren können und wollen wir zwei hier aber dennoch nicht, es stehen uns schließlich noch einige Kilometer bevor. Wir sind heute mit wirklich schönen Wegen gesegnet, es geht kaum auf Asphalt sondern viel über Waldwege und Schotterpisten, worüber mein Knie sehr glücklich ist. Tatsächlich ziehen wir das Tempo an, Gert versucht mich immer wieder ein wenig zu drosseln, doch geht es bei leicht ansteigendem Weg wirklich sehr gut. Ich merke keinen Schmerz und wieder macht der Weg bei kühlen Temperaturen Spaß. Doch scheint es nicht nur die Sorge um mein Knie zu sein, die den Mann an meiner Seite langsamer werden lässt. Der heutige Lauftag ist der vorerst letzte seiner Pilgerreise, auf jeden Fall aber der Abschluss auf spanischem Boden.
Nach insgesamt 106 Tagen – Wahnsinn!
Ich kenne das Gefühl noch von meinem ersten Camino im Jahr Oktober 2010: Nicht ankommen wollen, nicht akzeptieren können, dass die Reise vorbei ist. Also nehme ich ihn an die Hand, versuche ihm bei diesem Gefühlschaos so gut beizustehen wie ich nur kann und ihm zu versichern, dass der Weg, auch seiner, mit der Ankunft in Muxía keineswegs vorbei ist.
Verstehen kann das ein Pilger aber erst lange nach der Ankunft.
Wo auch immer diese ist.
Auf der Höhe sehen wir eine einzelne Pilgerin vor uns herlaufen, die uns anspricht, als wir sie überholen. Sie bittet uns um einen Schluck Wasser – ich gebe ihr meine Flasche, die noch zu einem Drittel gefüllt ist. Gert hat ausreichend für uns beide in seiner Flasche und ganz lang ist der Weg nun auch nicht mehr. Sie, eine Deutsche, schaut mich ungläubig an und bedankt sich in einem Maße, als hätte ich ihr gerade ein wahnsinnig großes Geschenk gemacht. Mit der Gewissheit, die gute Tat des Tages vollbracht zu haben, gehen wir weiter. Der Abstieg lässt sich nicht weiter aufschieben. Ich entlaste das rechte Knie so gut es geht, der Teleskopstock hilft mir sehr. Als es immer steiler wird, meldet sich nun aber auch das linke Knie und teilt mir mit, dass das so nun auch nicht weiter geht und es das rechte Bein nicht mehr entlasten möchte. Mich packt die Furcht, denn dieser Schmerz ist genau der, den ich auf meiner letzten Trainingsrunde Anfang Juni gespürt habe und bei dem ich dachte, ich könnte keinen Schritt weiter gehen. Mir schießen die Tränen in die Augen, ich möchte nicht dass dieser Weg so endet. Ein kleiner Brunnen am Wegesrand bietet eine Sitzgelegenheit, um kurz durchzuschnaufen und mich zu beruhigen. Der Abstieg ist nicht mehr lang, die Wasserflasche füllen wir neu und nach ein paar Minuten versuchen wir es weiter.
Die Pause hat gut getan, das linke Knie meldet sich nicht mehr und ich schaffe den Abstieg. Die letzten drei Kilometer geht es nun an einer Landstraße entlang bis nach Muxía hinein. Kurz vor dem Ortseingangsschild packt mich eine wilde Entschlossenheit: Ich möchte nicht schlurfend und schmerzerfüllt am letzten Etappenziel ankommen. Ich möchte mich nicht besiegen lassen und möchte nicht, dass unser Weg auf diese Weise endet. Aufrechten Hauptes und mit erstaunlicherweise weniger Schmerzen überschreiten wir die Stadtgrenze und sind angekommen. Wahnsinn. Nicht nur, dass ich nun endlich Finisterra und auch Muxía auf meiner Camino-ToDo-Liste abhaken kann; ich bin nicht alleine, sondern mit genau dem Menschen, der (nicht nur) in diesem Moment an meine Seite gehört.
Wir machen uns auf die Suche nach unserer Herberge, dem Bela Muxía, halten aber an der ersten geöffneten Bar. Wenn es heute kein Ankommensbier gibt, wann bitte sonst? Nach kurzer Rast erreichen wir die Herberge, auch hier steht die Reservierung noch, die Hospitalera geleitet uns durch die Flure, über eine schöne Terrasse und schiebt auf einmal eine Terrassentür zur Seite. Das kann doch nicht unsere Zimmertür sein? Ist es! Ein Zimmer, das wirklich seinesgleichen sucht und das auch noch zu einem Knaller-Preis. Diese Herberge ist der absolut geniale Abschluss unseres Camino des Fisterra & Muxía und ich möchte sie jedem ans Herz legen, der einen Aufenthalt in diesem Ort plant!
Eine schnelle Dusche und ein Waschmaschinen-Start später treffen wir auf Jane und Erin, mit denen wir uns für den Abend zum Dinner verabreden. Später wird auch npch Elke aus Deutschland dazu stoßen, sodass wir ein großartiges letztes, gemeinsames Aendessen genießen können. Wir möchten schnellstmöglich zur Wallfahrtskirche und uns anschließend unsere Muxíana abholen, die Urkunde über den gelaufenen Weg nach Muxía. Der Anblick der Kirche so nah an der See ist beeindruckend und sogleich kommen mir die fürchterlichen Bilder in den Kopf, als an Weihnachten 2013 der Dachstuhl nach einem Blitzeinschlag in Flammen stand. Auch denke ich an die Schlusszene aus dem wunderbaren Film The Way von Emilio Estevez* mit dem grandiosen Martin Sheen.
Es ist gar nicht mal die Kirche, die so beeindruckend ist, viel mehr sind es die Felsen, die sie umrahmen, die Wellen die sich ihren Weg bahnen, die Gischt, die hoch schäumt. Es ist die außerordentliche Verbindung von jahrhundertealter, geduldiger Ruhe und der ewigen Wildheit des Meeres, die dieses Bild so sureal macht. Wir klettern auf den Felsen herum, machen Bilder, strecken die Gesichter in die salzige Luft und genießen das Gefühl, endlich angekommen zu sein.