Tag 5 – Von Inverarnan nach Tyndrum (20 Kilometer)

Nach einem ausgiebigen englischen Frühstück mit Bohnen, Toast und Rührei brechen wir auf. Wir Mädels haben uns noch ein fesches
T-Shirt gegönnt, das eindrucksvoll beweist: Wir waren auf dem West Highland Way.

Die proteinhaltige Stärkung hält heute nicht lange. Amy, deren flinken Schritt ich die letzten Tage kaum aufholen konnte, hinkt plötzlich mehrere Meter weit hinterher. Ihre Achillessehne schmerzt und mehrere Blasen an den Hacken verübeln ihr den Weitermarsch. Ich bin besorgt. Verletzungen an den Füßen habe ich bisher noch gar nicht erfahren. Meine alten Treter, die der Pennine Way so richtig durchgeweicht hat, sitzen perfekt an meinen Füßen und ich kann mich nicht beklagen. Mein Engländer nennt sie liebevoll „Teppichlatschen“. Je weiter wir kommen, destso schneller gewöhnen sich Amys geschundene Füße wieder an die Belastung und bald hat sie uns mühelos wieder aufgeholt. Auch mein Engländer humpelt heute etwas bedenklich, aber natürlich sei das nur ein „winziges Ziehen im Bewegungsapparat“. Männer! Obwohl ich selbst schon mehrmals gestolpert und einmal längs auf einem völlig ebenen Pfad gelandet bin, scheint bei mir alles in Ordnung.

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Gemächlich schlängelt sich der weite Steinpfad immer am Fluss Falloch entlang, vorbei an zerklüfteten Felsformationen, über die tonnenweise schaumige Fluten hinwegdonnern. Auf der anderen Flussseite tuckern die Züge der Highland Line Railway vorbei. Mehrere glitzernde Bäche kreuzen unseren Weg. Und wieder stimmen wir schottische Volkslieder an und dichten unsere eigenen Texte hinzu:

You’ll take the high route and I’ll take the low route
I am looking forward to a pub tonight
Throw me a bone I don’t walk any further
Dideldideldum…

Trotz unserer Wehwechen kommen wir heute gut voran, was womöglich auch an der charmanten Begleitung liegt, die sich uns an der nächsten Weggabelung anschließt. Der 74-jährige Paul aus Südyorkshire erwandert den West Highland Way allein mit Zelt. Seine Frau musste er daheimlassen, da bei ihr ohne Elektrizität und Haarföhn nichts geht. Aber das scheint ihn nicht weiter zu stören, denn dank seiner Geselligkeit ist er bereits mit jedem Wanderer auf dem Trail befreundet und teilt fleißig gute Ratschläge aus. Sein Erfahrungsschatz ist tatsächlich Gold wert, genau wie seine Ausrüstung. Die besteht aus feinstem Zwirn und hochwertigsten Materialien. Allein sein Zelt kostet um die 600 Pfund. Eins wird uns schnell klar: Der Mann hat Ahnung und ist obendrein noch supersympathisch. Ein richtiger Großvatertyp.

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Paul hat bereits fünf Mal Ben Nevis bestiegen und so gut wie jeden größeren Berg in Schottland. Wir sind ziemlich beeindruckt und können gar nicht mehr aufhören, ihn mit unseren Fragen zu löchern. Und Paul hat noch ein Talent: Er bringt Leute zusammen, ganz unkompliziert. Und so machen wir wenig später die Bekanntschaft von Markus und Simon aus Trier sowie Justin aus Südengland. Es fällt mir witzigerweise plötzlich schwer, Deutsch zu sprechen und ich verfalle immer wieder in einen Mischmasch der Kulturen. Seit wir die seltsamen Burschen aus Israel hinter uns gelassen haben, scheinen die Charaktere auf dem West Highland Way weitaus angenehmer zu werden.

Ohne es zu merken, gelangen wir mir nichts dir nichts an den Halbzeitpunkt. Auf einer Kreuzung nahe Crianlarich freuen wir uns ausgiebig über unseren erfolgreichen Zwischenstand auf dem Meilenkonto. Auf einer Mauer strahlen uns zwei Wanderinnen bereits entgegen. Helen und Sarah zwinkern mir verschwörerisch zu und fragen mich plötzlich aus dem Nichts heraus: „Wie war denn der Pennine Way?“ Völlig überrascht entgegne ich mit aufgerissenen Augen: “ Woher wisst ihr das denn?!“
„Nun ja, du hast da einen Aufnäher an deinem Rucksack.“ Ich schlage mir die Hand an die Stirn und juchze vor Albernheit: „Haha, hab ganz vergessen, dass ich ja angeben wollte!“ Jetzt befinde ich mich im Kreuzverhör und gebe meinen Erfahrungsschatz mit Freuden weiter.

Tag 5 – Von Inverarnan nach Tyndrum (20 Kilometer)

Dann geht es weiter immer bergauf in einen tiefen dunklen Nadelwald. Von hier oben eröffnen sich uns spektakuläre Aussichten auf die mächtigen Gipfel der Highlands. Und ganz plötzlich fällt weicher Flausch vom Himmel herab. Es schneit und ich laufe im T-Shirt durch Schottland! Was für ein Gefühl. Wir sind überglücklich.

Tag 5 – Von Inverarnan nach Tyndrum (20 Kilometer) 20160427_133551 Tag 5 – Von Inverarnan nach Tyndrum (20 Kilometer) Tag 5 – Von Inverarnan nach Tyndrum (20 Kilometer)

Der steile Abstieg ins Tal belohnt uns mit weiten Schafsweiden, auf denen winzige Lämmer herumtollen. Ich kann mich kaum satt sehen angesichts einer solchen Flauschigkeit. Und mitten im süßesten, sorglosesten Augenblick macht mein linker Fuß schlapp. Nö, bitte nicht! Ein zerrender Schmerz zieht durch meine Bänder und ich kann mich nur noch humpelnd fortbewegen. An den Ruinen der Abtei des Heiligen St. Fillian, einem irischen Missionar aus dem 7. Jahrhundert, legen wir Rast ein. Dann durchqueren wir fußlahm ein hübsches Postkartental, um das herum die mit weißem Puderzucker bestreuten Giganten der Highlands aufragen. Hier liegt idyllisch ein Zeltplatz, in dessen kleinem Lädchen wir uns Kaffee und klebrigen Kuchen besorgen.

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Mein Fuß ist inzwischen sichtbar angeschwollen und lässt sich kaum noch aufsetzen. Auf meine Laufstöcke gestützt, schlurfe ich mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Inzwischen schneit es wieder heftiger und die eisige Luft schneidet ins Fleisch. Am Holy Pond mache ich meine Gefährten darauf aufmerksam, dass man hier früher Leute unterstukte, die vom Wahnsinn befallen waren. Auch ich verliere allmählich den Verstand. Der Schmerz nimmt Oberhand.

Über offenes Moorland erreichen wir schließlich unseren Zeltplatz im kleinen Städtchen Tyndrum. Die Rezeptionistin ist ein Verkaufstalent. Eigentlich wollten wir zelten, stattdessen überredet sie uns geschickt zu einer Hikerhütte mit Heizung. Heidewitzka! Wir schlagen ohne Nachzudenken zu. Die Hütte ist ein Traum. Eigentlich erstaunlich, wie sehr die Ansprüche auf so einer Wanderung auf ein durchaus gesundes Maß schrumpfen. Die Bude verfügt über drei Bettgestelle, eine Heizung und einen Wasserkocher.  Paradiesische Zustände! Paul hat bereits sein Zelt auf dem Rasen aufgeschlagen. Wir beneiden ihn nicht.

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Am Abend speisen wir gemeinsam mit Granddad Paul Fish and Chips und besuchen das örtliche Pub. Markus, Simon und Justin gesellen sich zu uns. Ich bestelle mir einen schottischen Whisky und genieße die traute Wandergemeinschaft. Über den munteren Lach- und Sach-Geschichten vergesse ich glatt meinen Fuß. Amy und mein Engländer amüsieren sich ebenfalls sichtlich. Doch die sich anschließende Nacht wird kein Zuckerschlecken. Fiese Krämpfe durchzucken meinen Knöchel und der nächtliche Toilettengang wird dank Blitzeis zur schlittrigen Rutschpartie. Kaum setze ich einen Fuß aus der Tür lande ich unglücklich auf den Knien und biege mir mein Fußgelenk nochmal schön zur Seite weg. Das war’s.

Am Morgen kann ich kaum noch laufen. Zudem gibt der Wetterdienst eine besorgniserregendeWarnung heraus: Heftige Schneestürme brechen über die Highlands herein und auf den nächsten dreißig Kilometern gibt es keine Herberge, nur offenes flaches Land. Ich fühle mich hundeelend. Bittere Tränchen rollen mir unaufhörlich über die Wangen. Verdammt! Klappe zu, Affe tot. Der West Highland Way muss wohl oder übel vertagt werden. Wir sind uns einig: Wir treten die Heimreise an. „Das ist eine weise Entscheidung“, versichert uns der rotbäckige Zeltplatzbetreiber. „Vorerst“, denke ich, das Unternehmen  wird wenn nicht jetzt, dann eben später auf jeden Fall zu Ende gebracht. Bis dahin spreche ich ein Machtwort mit meinem Fuß.



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