Dass ich morgens meinen Kaffee brauche, um in Schwung zu kommen, dürfte der geneigte Leser schon bemerkt haben. Dass ich auf dem Camino de la Costa echt Probleme hatte, eine geöffnete Bar zu Tagesbeginn zu finden, ebenso. Umso schöner ist es, wenn zur Unterkunft ein Lokal gehört und die Inhaber verstanden haben, dass sie nur nur mit früh aufbrechenden Pilgern Geld verdienen können, sondern diese auch extrem glücklich stimmen. In der Casa Loncho ist dies der Fall, sodass wir nach einer großen Tasse Kaffee beschwingt in den Tag starten können. Die Erschöpfung des gestrigen Tages hat sich gelegt, die morgendliche Dusche zum Wachwerden ist echter Luxus und so zieht es uns wieder zurück auf die Straße Richtung Finisterre – ans Ende der Welt.
Die ersten Kilometer geht es hinauf, allerdings nicht steil, sondern angenehm über einen längeren Zeitraum – solche Wege finde ich super: Sie fordern ohne zu erschöpfen. Wir gelangen auf einen traumhaften Höhenweg, sehen dann und wann bunte Rucksäcke durchs Geäst schimmern, sind aber trotzdem alleine unterwegs, bis wir an in einem kleinen Dorf mit Pipilette auf das US-Gespann treffen. Die nächste Bar soll nicht weit entfernt sein und wir verabreden uns für dort. Wir sind zwar noch nicht lange unterwegs, doch ist dies die letzte Bar bis Cee und damit die letzte Möglichkeit zur Einkehr für 15km.
Keinen Kilometer nach besagter Bar teilt sich die Straße und die Pilger müssen sich hier entscheiden, ob sie dem Weg nach Finisterre oder dem nach Muxía folgen. Unser Plan steht fest und wir schlagen den Weg nach links ein. Im Gleichschritt überholen wir etliche Pilger, einer raunt uns amüsiert hinterher, wer von uns denn wen ziehen würde – wir sind definitiv schnell unterwegs, das jedoch ohne zu hetzen oder zu rennen, sondern in einem für uns und auf gerade Strecke absolut wunderbaren Lauftempo.
Der Weg steigt unmerklich an und wir kommen den tiefhängenden Wolken immer näher. Nebel gesellt sich dazu und macht es uns Brillenträgern nicht leicht. Irgendwann geht es nicht anders und wir müssen ohne Brillen weiterlaufen – für mich weniger ein Problem, doch müssen wir unser Tempo drosseln. Der Weg ist uneben und steinig, der Nebel bietet uns manchmal nur für wenige Meter Sicht nach vorne. Laut meines Reiseführers soll an Kilometerstein 22,509 die erste Möglichkeit für einen Blick aufs Meer geboten werden. Mal abgesehen davon, dass wir dank der Wolken und des Nebels ohnehin nichts so weit sehen können, finden wir diesen Kilometerstein noch nicht einmal, da viele der Entfernungsplaketten fehlen.
Der Weg macht unwahrscheinlich viel Spaß und das, obwohl sich uns die Sonne kein einziges Mal zeigt. Es ist eine angenehme Lauftemperatur, der Weg ist schön und die Kraft des Windes tut unheimlich gut. Ich denke an vergangene Zeiten, strecke die Nase in den Wind, breite die Arme beim Laufen aus und ziehe unheimlich viel Energie aus diesen Kilometern. Als es irgendwann bergab geht, bin ich so beschwingt, dass ich ein wenig unvorsichtig bin. Ich bin mir sicher, dass ich das büßen werde aber habe gerade so viel Spaß, dass ich nicht damit aufhören kann.
Wir erreichen direkt am Ortseingang von Cee eine Bar und kehren auf eine schnelle Cola hier ein, bevor wir weiter ins Stadtzentrum laufen um eine Möglichkeit für eine richtige Einkehr aufzutun. Bis Finisterre liegen noch 12km vor uns und die möchten wir gestärkt in Angriff nehmen. Als wir schon einen weiteren Umweg gehen wollen, da wir einfach kein Lokal finden, stehen wir vor einem Plakat, dass ein Tex-Mex Restaurant in 35m Entfernung ankündigt. Wir sind hellauf begeistern, stürmen hinein und freuen uns wie kleine Kinder über einen Wahnsinnsburger.
Die übrige Strecke bis ans Ende der Welt legen wir langsamer zurück, mein Knie macht sich bemerkbar und ich ahne, dass es die frühe Rache für den Abstieg nach Cee ist. Während wir trotzdem gut voran kommen, schreibt mir Nancy, dass sie ihren Plan, heute bis Finisterre zu laufen geändert hat und lieber in Cee bleibt. Sie hofft, dass das Wetter morgen besser ist und sie damit einen schönen Lauf mit anschließendem Sonnenuntergang in Finisterre genießen kann. Es ist schade, da wir sie somit nicht wieder sehen werden, allerdings allzu verständlich, zumal sie Null Zeitdruck hat und alles sehr entspannt angehen kann.
Die letzten Kilometer nach Finisterre hinein sind eine Qual für mich, bergab schmerzt das rechte Knie und ich muss mich sehr konzentrieren. Der Weg führt uns am Strand von Finisterre entlang direkt zu unserer Herberge, die keine 100m vom Strand entfernt liegt. Meine Reservierung steht noch und wir erhalten in dieser wirklich schönen Unterkunft ein Zimmer mit Meerblick und Hydromassage-Dusche. Die Rucksäcke laden wir ab und gehen direkt zurück zum Strand: Ich will ins Wasser! Viele Muscheln machen den Weg ins tiefere Wasser beschwerlich, Gert spielt Klarina in Poo de Llanes nach und ich genieße das kalte Wasser in vollen Zügen. Die heiße Dusche im Anschluss ist eine Wohltat und schnell machen wir uns auf zur Touri-Info, wo wir die Finisterrana erhalten, die Urkunde, die uns unseren Weg von Santiago de Compostela bis nach Finisterra bescheinigt.
Nach einem kurzen Einkaufsbummel und mit warmen Jacken ausgestattet schlappen wir ans Kap Finisterre, um dort auf den Sonnenuntergang zu hoffen. Es ist eine Art Pilgertradition, in den Klippen unter dem Leuchtturm den Sonnenuntergang zu bestaunen, die eigene Reise am sogenannten Ende der Welt ausklingen zu lassen und eventuell sogar etwas aus den wenigen Habseligkeiten zu verbrennen um damit einen symbolischen Abschluss der Pilgerreise zu feiern. Wir machen die obligatorischen Fotos am Kilometerstein 0, suchen uns mitsamt Käse, Brot und Wein ein lauschiges Plätzchen in den Klippen und machen es uns gemütlich.
Den gesamten Tag waren wir von Nieselregen und Nebel umgeben und ich habe mit jedem Kilometer mehr bemerkt, dass es Gert mehr als nur leid tut, den Sonnenuntergang nicht sehen zu können. Mein Leitspruch „Vertraue dem Camino!“ hat er zwar immer nickend bestätigt, aber so richtig daran glauben konnte er nicht. Wir sitzen nur wenige Minuten in den Klippen, als der Himmel aufreißt, und die Sonne hindurch lässt. Ich möchte da jetzt wirklich nicht zu hochtrabend schreiben, aber genau diese Dinge sind es, die mein Vertrauen in den Camino unerschütterlich machen. Ich weiß, der Spruch ist ausgelutscht, aber er ist nunmal wahr: Der Camino gibt Dir, was Du brauchst!
Von Minute zu Minute ändert sich dieses wahnsinnig schöne Panorama vor uns, die Weite des Meers lässt mein Herz laut aufseufzen, die Sehnsucht nach der Ferne ist hier ungebremst und ich darf diesen wunderbaren Abend mit meinem Herzensmenschen erleben. Was sich uns da zeigt, ist unfassbar schön und mit nichts und keinem noch so schönen anderen Sonnenuntergang vergleichbar. Der Weg, der jeden einzelnen Pilger bis zu diesem Ort gebracht hat, ist so einzigartig und besonders. Das Strahlen in den Gesichtern der anderen Pilger zu sehen, die verstreut in den Klippen und zwischen den Büschen sitzen ist wunderbar zu beobachten.
Ach, könnte man doch nur ein wenig der Glückseligkeit einfangen, die über diesem Ort schwebt.