Tag 4 – Von Carlton Bank nach Kildale (21 Kilometer)

Ohne Kamera und mit einer starken Dosis Koffein in den Venen wollen heute Hügel um Hügel erklommen werden. Zunächst geht es rauf auf Cringle Moor. Ich schnaufe auf dem letzten Loch als ich die Anhöhe erreiche, auf der ein willkommener Steinverschlag wartet. Außer Puste lasse ich mich auf eine windgeschützte Steinbank fallen und beiße erstmal kräftig in einen Proteinriegel. Immerhin sitze ich jetzt auf dem drittgrößten Berg der North Yorkshire Moors auf 432 Metern Höhe. Und natürlich ist die Szenerie ausgerechnet jetzt, wo ich nicht ein einziges Bildchen knipsen kann, phänomenal. Mein Blick fällt auf ein gusseisernes Schild direkt vor mir, das ich mir schon viel früher, auf vielen anderen Hügeln gewünscht hätte, denn es zeigt mir mit genauen Richtungsangaben die von hier oben aus sichtbaren Städtchen und Erhebungen mit Namen an. Ich stelle mir vor, wie toll es wäre, eines Tages durch England zu laufen und jeden Hügel beim Namen nennen zu können. Weit hinten im Nord-Westen erhebt sich Cross Fell, der höchste Berg in den Pennines, weiter südwestlich Ingleborough und Whernside, zwei der Yorkshire Three Peaks und dann entdecke ich Hartlepool und bedanke mich mit einem Stinkefinger für das eindeutige Bekenntnis der Stadt zum Brexit.

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Der zu Ehren von Alec Falconer (1884-1968), einem Gründungsmitglied des Middlesborough Wanderclubs, errichtete Richtungsweiser auf Cringle Moor.

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Doch schnell vergesse ich die Tagespolitik, als sich beim nächsten Regenschauer der eben noch so bequeme Steinpfad in eine glitschige Schlitterbahn verwandelt. Mir steht jetzt ein zittriger Abstieg bevor. So gut es geht, versuche ich auf Gras auszuweichen, obwohl ich weiß, dass dies die Erosion des Pfads verschlimmert und eigentlich kein sportliches Verhalten ist, sehe ich nicht ein, mit gebrochenem Skelett auf halben Weg ins Tal zu verenden. Immerhin muss ich heute über zahlreiche Hügel stapfen. Schnell wird mir klar, dass ich mit meinem einkalkulierten Zeitpensum von sieben Stunden wohl kaum hinkommen werde, wenn ich mich nur zentimeterweise von den zahlreichen rutschigen Abhängen hinunterquäle. Auch habe ich nur einen Liter Wasser dabei, heute aber einen unglaublichen Durst. Meinen Flüssigkeitshaushalt schleppe ich übrigens in einem Trinksack mit mir herum. Ich finde es praktisch, aus dem Schlauch zu trinken, der da gleich zu meiner Seite aus dem Rucksack baumelt, anstatt ständig nach einer Flasche zu suchen. Jedoch gibt es auch ein paar Nachteile, die mir jetzt wieder in den Sinn kommen. Erstens kann man seinen Durst nur in kleinsten Schlückchen stillen, die man unter zusätzlichem Krafteinsatz auch noch einzeln heraussaugen muss und zweitens habe ich gar keine Kontrolle darüber, wie viel Wasser sich überhaupt noch in der Kunststoffblase befindet. Es sei denn, ich setze meinen Rucksack alle paar Meter ab und gucke nach.

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Blick zurück auf Cringle Moor vor dem Aufstieg auf Cold Moor.

  © Copyright Gordon Hatton and licensed for reuse under this Creative Commons Licence

Am Fuß des Hügels schmeiße ich mich in meine Regenkluft: wasserfeste Jacke, Gamaschen, regenfeste Überzieherhose. In dieser Ausstattung, die mich über Stunden trocken hält, habe ich richtig Spaß hier draußen. Eigentlich mag ich das Wandern im Regen abgesehen von den rutschigen Wegen doch recht gern, denn es sorgt für Abkühlung

Egal, jetzt geht es erstmal weiter über Cold Moor und dann wieder rauf auf Hasty Banks. Hier sehe ich schon von Weitem alte Freunde auf dem Pfad herumlungern. Einen entgegenkommenden Spaziergänger frage ich trotzdem mal zur Sicherheit, ob die Kühe da auf dem Feld passierbar sind. „Ach die sind okay, ist nur Rindfleisch und wenn die dir doof kommen, wedelst du einfach mit deinen Stöcken.“ Das reicht mir als Beruhigungspille aus und ich spaziere frohen Gemütes durch die friedliche Herde aus skeptisch dreinblickenden Muttertieren und plüschigen  Hochlandkälbern auf White Hill zu. Kurz bevor ich das Tor erreiche, erblicke ich eine Kuh, die sich abseits der Herde aufhält und jetzt schnurstracks auf mich zukommt. Moment, eine Kuh als Einzelgänger ist doch recht ungewöhnlich. Oh je, ein Blick aufs Gemächt verrät mir: Das is gar keine Kuh, das ist ein ausgewachsener Bulle! Und wie es Bullen so an sich haben  – jedenfalls, die, die ich bislang kennenlernen durfte-, starrt der mich unverblümt an und läuft nur in Haaresbreite an mir vorüber. Mein Herz rutscht mir sonstwohin und ich mache mich geschwind vom Acker. Ich überlege jetzt ernsthaft, vielleicht mal einen Kurs bei einem Farmer zu machen, um mich besser in die Seele eines Rindes hineinversetzen zu können. Aber ich höre schon jetzt dessen verständnisloses Murren: „Seele? Die kriegen einen übergezogen, wenn die nicht parieren, die verdammten Steaks!“ Oder so ähnlich. Wie dem auch sei, jedenfalls erreiche ich heil die Wainstones auf Hasty Banks und stehe vor einem Rätsel.

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Die Wainstones auf White Hill. Hier klettere ich ungewollt auf einem schmalen Pfad an der linken Seite entlang.

© Copyright Scott Robinson and licensed for reuse under this Creative Commons Licence.

Der Pfad verwschindet plötzlich zwischen riesigen durcheinandergewürfelten Felsbrocken. Och nö! Der Cleveland Way war bisher immer bestens ausgeschildert und ich hätte meine Karte eigentlich zu Hause lassen können. Jetzt bin ich froh, dass ich sie doch dabeihabe. Scheinbar gibt es mehrere Möglichkeiten die Felswüste zu überqueren und man hat eben ein bisschen Kletterspaß mit eingebaut. Meine Wahl fällt auf einen Pfad, der wieder mal viel zu nah am Gefälle entlangführt. Als ich merke, dass ich mich auf gefährlichem Terrain bewege, ist es für eine Kehrtwende zu spät. Ein stürmischer Wind und die Wucht meines Rucksacks machen es mir unmöglich, mich umzudrehen und wieder zurückzugehen. Also taste ich mich weiter an der steil nach unten abfallenden Hügelseite entlang und nun führt der Weg in einem fast senkrechten Anstieg wieder auf den Gipfel. Ich atme tief durch. Jetzt bloß nicht die Fassung verlieren. Vorsichtig ziehe ich mich Felsvorsprung um Felsvorsprung hinauf. Das Gewicht meines Rucksacks zieht mich dabei ungünstig nach hinten, sodass ich einige Kraft aufbringen muss, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich schaffe es mit Mühe und Not und als ich den Gipfel erreiche, erstreckt sich ganz frech direkt vor mir der Cleveland Way. Na schönen Dank auch!

Doch mit der Kletterei ist noch längst nicht Schluss. Es folgen noch drei weitere Hügel, darunter auch Round Hill, mit seinen 454 Metern der höchste Punkt in den North York Moors. Ich treffe mehrere Coast-to-Coast-Wanderer, aber wieder mal keinen einzigen Cleveland-Walker. Ein älteres Ehepaar erweckt mein besonderes Interesse. Die beiden wandern mir in perfekt abgestimmter Outdoorausrüstung entgegen und als sie meine Rucksackaufnäher von bekannten Wanderzielen sehen, halten sie mich für eine von ihnen und beginnen ein Schwätzchen. Sie sind übrigens die einzigen auf dem Trail, die mich mal nicht nach meiner Herkunft gefragt haben. Das finde ich mittlerweile nämlich ziemlich nervig, denn ich bin eindeutig aus Yorkshire und war früher eben mal Berlinerin. Die beiden kommen geradewegs von der Westküste und schlendern mit über siebzig mal eben quer durch Yorkshire. Ich ziehe meinen Hut vor dieser Ehe! Doch es fällt mir schwer, den beiden zuzuhören, denn ältere englische Paare haben die Angewohnheit parallel zu sprechen und einander andauernd ins Wort zu fallen.  Das mag damit zusammenhängen, dass es in Yorkshire meist so laut stürmt, dass man gar nicht mitkriegt, wenn der Partner neben einem etwas sagt oder die Lippen einfach nur vom Wind auf- und abflattern. Vielleicht ist es aber auch eine Form der Ungeduld, die sich einschleicht, wenn man nach vierzig Jahren Ehe eh schon weiß, was der andere gleich sagen wird.

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Der Cleveland Way führt auf einem restaurierten Pfad durch Urra Moor, dem höchsten der North York Moors.

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Nach den erschöpfenden Hügelbesteigungen laufe ich stundenlang über drei flache aufeinanderfolgende Moore. Inzwischen brennen meine Hüften, die ich in der Nacht mit einer Notheiltinktur aus Fußsalbe behandelt habe wieder unerträglich, meine Schultern können die Last meines Gepäcks kaum ausgleichen. Endlich erblicke ich Kildale in der Ferne und hoffe auf einen kurzen Abstieg ins Tal. Doch der nächste Wegweiser raubt mir allen Mut. Weitere zwei Stunden quäle ich mich über eine asphaltierte Straße, die meine Fußsohlen gnadenlos aufscheuert. Der hübsche Tearoom im Dorf hat längst geschlossen und damit die einzige Versorgungsmöglichkeit für den heutigen Abend. Laut dem Accomodation Guide für den Cleveland Way soll sich die Kildale Camping Barn and Campsite eine viertel Meile vom Trail ab befinden. Doch wo genau, habe ich mir im Vorfeld unbekümmerterweise natürlich wieder nicht genau angeschaut. Kurz vorm Ortseingang erblicke ich per Zufall ein verblichenes Holzschild, auf dem ich nur schwer etwas erkennen kann. „Moment mal, wenn der Wegweiser zum Zeltplatz schon nicht mehr generalüberholt wird, dann existiert der Zeltplatz vielleicht ja gar nicht mehr?!“, denke ich mit Schrecken. Unter der angegebenen Nummer erreiche ich niemanden, also folge ich auf gut Glück dem Schild. Das führt mich geradewegs über eine gut gefüllte Schafsweise. Panikartig stieben die Tierchen auseinander. Ein Schäfchen bleibt dabei mit seinen Hörnchen im Zaun stecken und kann weder vor noch zurück. Damit ich es nicht zu Tode erschrecke, beschließe ich, dem Farmer Bescheid zu geben, anstatt das panische Bündel selbst am Schwänzchen herauszuziehen. Doch als ich an der Farm ankomme, stehe ich vor drei fest verriegelten Metallzäunen. Weit und breit ist kein Mensch in Sicht. Auch das noch. Ich bin völlig erschöpft, hungrig und müde und meine verdammte Unterkunft scheint von allen guten Geistern verlassen.

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Die Camping Farm bei Kildale.

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Da ich mich wenigstens vergewissern will, klettere ich spontan über die Tore und rufe zaghaft: „Hallo?“. Nichts rührt sich. Irgendwie fühle ich mich jetzt doch etwas auf der schiefen Bahn und damit ich nicht als unbefugter Eindringling von einem noch nicht sichtbaren Hofhund zerfleischt werde, kehre ich besser um. Mit letzter Kraft wuchte ich mich also wieder über die drei Tore rüber und stapfe über die Weide zurück Richtung Straße. Da erschallt hinter mir plötzlich ein harscher Ruf: „Hey, du musst über den anderen Zaun rüber, den niedrigen zu deiner Rechten!“ Ach, na da soll einer drauf kommen! In Brandenburg hätte mir jeder Bauer vermutlich eine lange Rede gehalten, wo ich denn meinen Verstand gelassen hätte, wäre doch alles eindeutig und bla, bla, bla.“ Doch dieser hier heißt David und ist ein ausgesprochen freundlicher Landwirt mit Schiebermütze und einem typischen Holzfällerhemd bekleidet. Er ist der Eigentümer des Zeltplatzes und führt mich gleich mal im Gelände herum. Ich habe die Wahl zwischen einem exponierten Rasen und einem niedlichen, sehr gepflegten Grundstück mit Apfelbäumen, Tischen und Bänken, umrahmt von einer hohen Hecke. Als ich mein Zelt aufstelle merke ich zwar, dass die gesamte Wiese recht abschüssig ist, aber das Hin- und Hergerutsche in der Nacht nehme ich in Kauf dafür, dass ich windgeschützt träumen kann. Als ich David meine miserable Verpflegungslage beichte, schleppt der gutgelaunte Brite eine ganze Palette mit Fertiggerichten und Softdrinks heran, die ich für einen erschwinglichen Preis käuflich erwerben kann. Im Küchenbereich gibt es Wasserkocher und Mikrowelle, Kühlschrank und allerlei nützliche Haushaltsgegenstände. Ich entscheide mich für eine Dose Spaghettiringe mit Würstchen und eine Pepsi zum Abendbrot und zum Frühstück Bohnen, ebenfalls mit Würstchen gespickt (woran sich zweifelsohne meine Herkunft im Nu erraten lässt). Leider kostet die Dusche einen Pfund pro 15 Minuten und da ich mich zeitlich immer verschätze, bin ich schon nach zwei Minuten fertig.

Als ich mir mein Abendbrot aufwärme, bekomme ich Gesellschaft von einer verführerischen Hofkatze, die durch seidenweiches Fell besticht und äußerst anhänglich ist. Doch die Katze hat einen Haken. Sobald man anfängt, sie zu streicheln, verlangt sie, stundenlang gekrault zu werden. Ich gebe ihr aber nur fünf Minuten und kassiere dafür fortwährende Krallenhiebe an mein Schienenbein. Außerdem beherbergt der Hof fünf tollwütig herumspringende Hunde, die kaum im Zaum gehalten werden können. Als ich meinen Abwasch in die Küche bringe, beißt einer von Ihnen einem Kaninchen gerade den Kopf ab. Ich brauche Stunden, um das Bild wieder aus meinem Kopf zu bekommen.

Zunächst bin ich der einzige Gast auf dem Hof, doch kaum habe ich mich zur Nachtruhe gebettet, trifft eine englische Familie ein, die ihr Zelt direkt hinter der Hecke auf dem exponierteren Feld platziert. Ein kleiner Wicht von vielleicht elf Jahren ruft in einer Endlosschleife: „Ey ich schwöre, wir campen im Garten von jemandem! Ey ich schwöre…“ Die Eltern sehen gar nicht ein, den vorlauten Jungen zur Räson zu bringen. Ich beginne lautstark zu husten, um darauf hinzuweisen, dass gleich hinter der Hecke ein weiterer Camper gastiert, doch das stört die Familie wenig, die jetzt lautstark „Fang den Ball“ spielt. Überraschenderweise ist Punkt zehn Uhr dann Totenstille. Jetzt bin ich dran. Mit einem Knall  öffne ich eine Tüte Chips und telefoniere geräuschvoll schmatzend mit meinem Engländer.



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