Als ich mich am gestrigen Abend nach einem Gläschen Wein und ein paar gemütlichen Schmökerstunden in der winzigen Hausbibliothek von High Paradise Farm auf den Weg in meinen Schlafsack mache, staune ich nicht schlecht als direkt hinter meinem Zelt ein schwarzer Kuhkopf auftaucht. Zunächst bin ich etwas verunsichert, schlüpfe dann jedoch in mein Zelt, das inzwischen von lauter müffligen Tretminen umgeben ist. „Die werden mich hier ja wohl nicht unnötigen Gefahren aussetzen“, hoffe ich mal und schließe die Augen.
Daisy sieht gar nicht ein, warum sie nicht auch die Nacht hier verbringen soll. Schließlich war sie zuerst da.
Doch kaum habe ich mich an den Gedanken gewöhnt, dass da draußen ein Rind mit mir nächtigt, beginnt dieses auch schon unter heftigem Schnauben das Gras direkt um mein Zelt herum abzurupfen. „Verdammt, mein Zelt ist auch noch komplett grün. Kühe gehören nicht gerade zu den intelligentesten Lebewesen.“ Ich rechne jeden Moment damit, dass das Zeltgestänge unter kräftigem Kauen einbricht oder die Kuh direkt über mich rübertrampelt. Jetzt wird mir doch etwas mulmig zumute, doch ich kann weit und breit keinen Menschen ausfindig machen. Als ich die Zeltplane zurückschiebe, um mich zu vergewissern, dass die Kuh mich nicht gleich zum Nachtisch verspeist, bemerke ich, dass die gerade ganz andere Interessen verfolgt. Hinter dem nur lose zusammengezimmerten Zaun, der den Zeltplatz umgibt steht plötzlich ein stattlicher Jungbulle. Die Kuh stolziert mit weiblichem Augenaufschlag nun direkt auf diesen zu. „Na toll, wenn die zueinanderfinden, dann ist hier vermutlich die Hölle los.“ Doch der Bulle interessiert sich kein bisschen für seine Stalkerin, sondern raspelt unbekümmert Nachbars Hecke runter. Etwas beruhigt schließe ich die Zeltplane wieder und stopfe mir ein paar Gummistöpsel in die Ohren. „Wenn ich schon im Schlaf zertrampelt werde, dann muss ich das ja nicht unbedingt mitkriegen.“ Doch nach zwei Stunden taucht doch noch der Farmer auf und treibt die Tierchen in den Stall, natürlich im Galopp direkt an meinem Zelt vorbei. Der Boden vibriert so stark, dass ich in meinem Schlafsack kräftig durchgerüttelt werde. Dann ist endlich Ruhe im Gehöft und ich falle in einen ruhigen Schlummer.
Da es auf der Farm nur eine Gästetoilette mit Waschbecken gibt, bleibt mir am nächsten Morgen nur eine Katzenwäsche, bevor ich mich auf der Hambleton Drove Road, einer alten Viehtreiberstraße, die schon in der Bronzezeit genutzt wurde, in die einsamen Weiten der Moore von Boltby und Little Moor begebe.
Hambleton Drove Road. Eine alte Viehtreiberstraße über das Moor.
© Copyright steven ruffles and licensed for reuse under this Creative Commons LicenceDer breite, grasbewachsene Pfad führt direkt an einer gewaltigen Trockenmauer entlang, auf der neugierige Schafe hocken, auf der anderen Seite hoppeln ganze Moorhuhnfamilien durchs Heidekraut. Immer wieder setzen Regenschauer ein. Bei Whitestone treffe ich einen älteren Spaziergänger mit Basecap, der mich nach einem nahegelegenen Campingplatz fragt. Ich erzähle ihm von High Paradise Farm. Doch er will erst im September zelten, weil die Midges „gerade so eine Plage sind“. Als ich ihm erzähle, dass ich aus Deutschland bin, fällt er fast aus allen Wolken. „Ich finde es grandios, dass du das machst“, ruft er mir noch hinterher und verschwindet hinter dem nächsten Hügel. Mit einem Lächeln ziehe ich weiter, doch eigentlich ist mir so gar nicht zum Lachen zumute, denn mein Rucksack will plötzlich einfach nicht mehr zu meinem Körper passen. Ständig rutscht mir das verdammte Ding am Hintern nach unten und zieht mich nach hinten weg. Nachdem ich alle möglichen Einstellungen ausprobiert habe, gebe ich auf. Meine Hüftknochen sind seit gestern mehrere Zentimeter dick angeschwollen und schmerzen höllisch. Jetzt muss ich zwangsläufig die ganze Last auf die Schultern verlegen.
Hinter dichten Farnbüschen taucht vor mir das Städtchen Osmotherley auf. Zum Glück habe ich mir heute nicht allzu viel vorgenommen, denn ich muss mich humpelnd dort hinbegeben und brauche Stunden, um meinen wunden Körper vorwärtszuschieben.Und dann stürze ich mich mal wieder in ein Unternehmen, von dem ich eigentlich vorher schon weiß, dass es gründlich in die Hose gehen wird. ich entdecke eine Abkürzung auf meiner Karte, ein klar rot gestrichelter Pfad, der auf direktem Wege zum Zeltplatz führt. Ich verlasse also den Cleveland Way kurz vor Osmotherley und folge dem ausgeschilderten Public Footpath. Der führt an einer Farm vorbei durch kniehohe Wiesen und endet urplötzlich mitten im Schlamm. Ein Zeltplatz ist meilenweit nicht in Sicht. Warum neige ich bloß immer zu solchen irrsinnigen Spaziergängen, wenn meine Energiereserven eh schon am Nullpunkt sind? Eine ganze Stunde kostet mich der Spaß und meine Füße sind jetzt auch völlig durchweicht. Das hier wird mal wieder nichts, also drehe ich um und folge dann doch dem Cleveland Way.
Das Dorfzentrum von Osmotherley.
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Kurz bevor ich den Ortseingang erreiche, führt der Weg fußbreit zwischen hohen Hecken über Farmland hinweg. Natürlich kommen mir ausgerechnet jetzt ganze Familien entgegen, sodass ich mich dicht an die Hecke quetschen muss, damit sie passieren können. Um Halt zu finden greifen meine Hände dabei direkt ins Gebüsch und ein furchtbarer Schmerz durchbohrt mich. „Auaaaa! Verflucht!!!“ Na toll, ich habe direkt in die Nesseln gegriffen. Zu allem Unglück muss ich mich wenig später auch noch durch zwei handbreite Maueröffnungen quetschen und dazu meinen Rucksack abnehmen und mit nesselverbrannten Händen auf die jeweils andere Seite bugsieren. Jetzt bin ich so richtig mies drauf. Ärgerlich blicke ich auf ein Schild vor mir, dass Wanderer darum bittet, doch bitte ruhig und rücksichtsvoll durch die folgende Häusergasse zu laufen, um die Anwohner nicht zu stören. „Ey geht’s noch!“.
Osmotherley ist ein belebtes kleines Dörfchen mitten in den Hambleton Hills. Hier gönne ich mir erstmal einen Kaffee in einem Dorfladen, der mir gleich meinen zweiten Stempel in meinen Cleveland-Way-Pass stempelt. Da ich keine Lust habe, meine geschundene Hüfte auf harten Boden zu betten, versuche ich mir telefonisch im örtlichen Hostel ein Bett zu besorgen. „Tut mir leid meine Liebe, ist alles ausgebucht“, gibt mir die Dame am anderen Ende der Strippe zu verstehen. Also gut, etwas verstimmt mache ich mich auf zum Cote Ghyll Caravan Park, der etwas außerhalb liegt. Dieser ist an diesem Wochenende mit lärmenden Familien überfüllt. Auch das noch. In der Rezeption werde ich von zwei liebenswerten Damen in die Gepflogenheiten des Geländes eingeführt und erhalte einen handgezeichneten Plan, der mir den Weg zu meinem zugewiesenen Platz weist.
Der Cote Ghyll Caravan Park.
© Copyright Richard Webb and licensed for reuse under this Creative Commons LicenceNa wenn ich Orientierungsgenie mich damit nicht erst recht verlaufe. Außerdem erhalte ich einen Zugangs-Code für den Toilettenblock. Hierzu muss ich mal anmerken: Es gibt nichts Schlimmeres für einen Hiker, als am Ende des Tages ständig in den klammen Sachen zu wühlen, um ein winziges Papierschnipselchen zu finden, mit dem man berechtigt ist, einem natürlichen Bedürfnis nachzukommen, dass man da draußen für gewöhnlich barrierefrei verrichten kann. Und weil ich so schusselig bin, laufe ich für gewöhnlich immer zweimal den Weg zur Toilette. Das erste Mal nur so, um festzustellen, dass ich den blöden Code vergessen habe und das zweite Mal, um dann wirklich auf Toilette zu gehen. Echt!
Glücklicherweise darf ich mein Zelt in einer geschützten waldigen Ecke des Zeltplatzes aufbauen, direkt an einem rauschenden Bach. Doch was ist das?! Als ich die Heringe in den mit Schafsköddeln übersäten Rasen rammen will, stoße ich auf Granit. In die Kunstrasenfläche, die dazu dient, die Zeltunterseite trocken zu halten, wobei die Heringe an den Seiten jeweils in echte Erde gesteckt werden, passt mein Zelt ganze sechs Mal rein. Unmöglich kann ich da mein Zelt aufbauen. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als aus der Reihe zu tanzen und meine bescheidene Hütte komplett auf dem matschigen Rasen zu platzieren. Als ich das Ganze nach Fertigstellung so von außen betrachte, bin ich etwas peinlich berührt. Zwischen den mich umgebenden Zehnmannzelten mit integrierter Garage und Barbecuestand, wirkt mein sarkophargähnliches Einmann-Zelt ziemlich lächerlich. Zudem werde ich argwöhnisch von allen Seiten beäugt. Kein Wunder, mein Haar steht wild in alle Richtungen ab und meine Klamotten sind dank sommerlicher Temperaturen völlig durchgeschwitzt Da es noch früher Nachmittag ist, wasche ich diese schnell im Waschbecken durch und stopfe sie in den Trockner. Den schmeiße ich ganze fünf Mal an und meine Wäsche ist immer noch triefend nass. Da mein Kleingeld auf diese Weise in Lichtgeschwindigkeit zur Neige zu gehen droht, hänge ich Socken, T-Shirts und Unterhosen zum Trocknen in mein Minizelt, in dem ich eh schon Platzangst habe.
Um mich herum schnuppert es herrlich nach gegrillten Steaks und Würstchen. Herrje, ich bin am Verhungern. Schnurstarcks mache ich mich auf in den „Golden Lion„, einen anständigen Pub, der um drei Uhr nachmittags allerdings noch gähnend leer ist.
Als ich den Schuppen betrete, trällert im Hintergrund Cat Stevens und eine unmotivierte Tresenkraft gibt mir zu verstehen: „Abendessen gibt’s erst ab um sechs, aber alle Tische sind reserviert. Sorry!“ Verdammt noch mal! Ich setze meinen verzweifelsten Blick auf und versuche mit allem mir zur Verfügung stehenden Charme doch noch einen Platz an der Tafel zu ergattern. „Na schön, ich kann dich ab sechs an einen Tisch setzen, aber du musst bis halb sieben aufgegessen haben.“ Na wenn’s weiter nichts ist. Ich ordere eine Cola und eine Tüte Chips und lungere drei Stunden, an meinem Smartphone spielend, in einer unscheinbaren Ecke herum. Am Ende bekomme ich zwanzig Minuten und schlinge in Rekordzeit einen überdimensionalen Bürger und massenweise trockene Chips herunter. Um mich herum versammeln sich adrett gekleidete Engländer in Abendkleidern und gebügelten Partyoutfits. Ich blicke verschämt an mir herunter und entscheide mich, ganz schnell den Abflug zu machen. Es ist gerade mal halb sieben als ich enttäuscht zum Zeltplatz zurückhinke. In meinem Zelt liege ich zwischen klammen Wäschestücken und angebissenen Schokoriegeln bis zum Sonnenuntergang wach und lausche dem Rauschen des Bächleins. „Auf dem Cleveland-Way ist man wirklich unglaublich einsam“, bilanziere ich traurig. Kein einziger Gefährte ist hier, mit dem ich meine Erlebnisse teilen kann. Weit und breit nur dicke Urlauber und kreischende Kinder. Na dann Gute Nacht!