Die Nacht auf dem Campingplatz war kurz. Ich bin ziemlich durchgefroren, aber mein Körper ist erstaunlich unversehrt. Mein Wecker klingelt gegen 6.30 Uhr. Jetzt heißt es Katzenwäsche, Wasser nachfüllen, Wunden versorgen, Sachen zusammenpacken. Doch ich bin so langsam, dass ich mehr als eine Stunde brauche, um endlich abmarschbereit zu sein. Ich stopfe mir einen halben Müsliriegel in die Backen, schlürfe den letzten Rest Pepsi aus, die ich gestern noch ergattern konnte, schnalle mein Monstrum auf und marschiere los. Als ich den Zeltplatz verlasse, muss ich mich erst in der Gegend orientieren. Ich bin so müde, dass ich schon wieder keine Peilung habe. Doch laut Karte habe ich eine Ahnung, wo es langgehen müsste. Als ich einem Trupp von Hikern begegne, weist jeder in eine andere Richtung. Also folge ich dem Pfad, den ich für richtig halte und siehe da, nach einer längeren Steigung erreiche endlich wieder den Pennine Way. Die Sonne strahlt. Eigentlich ist es schon zu heiß, aber ich will mal nicht meckern.
Hier startet die zweite Etappe.
Und in der Ferne sehe ich schon, dass der nächste Berg bereits auf mich wartet.
Irgendwie hatte ich angenommen, der heutige Tag müsse ein Kinderspiel werden im Vergleich zum gestrigen, aber ich werde schnell eines Besseren belehrt.
Doch der Ausblick, der sich bereits in den Morgenstunden eröffnet haut mich aus den Socken. Am nächsten Gipfelpunkt höre ich mich selbst laut juchzen vor lauter Ergriffenheit. Ich blicke auf eines der schönsten, farbenprächtigsten Täler, die man sich vorstellen kann. Und mitten hindurch schlängelt sich gemächlich der Crowden Brook. Alles glitzert und funkelt im Sonnenlicht. Ich fühle mich ohnmächtig inmitten einer solchen Pracht. Meine Augen werden reich beschenkt und mein Herz fasst neuen Mut und sprudelt über vor Tatendrang.
Als ich auf dem nächsten Hügel sitze und ziemlich außer Puste bin, schlendert mein optimistischer Sonnenhutträger von gestern plötzlich wieder auf mich zu. Er hält inne und spricht mir gut zu: “Das ist der anstrengendste Part für heute. Da kommt nichts Schlimmeres mehr. Du kannst dich also freuen.” Und mit diesen tollen Aussichten lässt er mich zwinkernd auf meinem Felsen zurück.
Ich brauche noch ein Weilchen, bis ich mich wieder aufraffen kann, aber ich werde belohnt. Immer, wenn ich um eine Ecke biege, an einen neuen Abhang gelange, taucht wie aus dem Nichts ein neues Überraschungspaket auf. Diesmal ist es ein romantischer Wasserfall.
Ich ahne noch längst nicht, wie gnadenlos mich der Pennine Way auch am zweiten Tag martern wird und laufe frohen Mutes immer weiter. Da zieht die Jungsgruppe von gestern ebenfalls an mir vorbei. Na toll, die haben garantiert bis zehn gepennt und sind dann gemütlich losgewackelt. Was soll’s, jeder hat eben sein eigenes Tempo.
Der nächste Knochenbrecher steht mir kurz bevor, ich erreiche den Fuß der Laddow Rocks und muss meine Kletterkünste aufs Neue beweisen. Hallelujah, der heutige Frühsport nagt aber auch an den Kräften, holt alles aus mir raus. Ich trinke so viel Wasser, dass ich fürchte, es könnte bis Tagesende nicht mehr reichen. Ich stoppe alle paar Meter, aber ich vermeide es, beim Herauffklettern auf den Berg nach oben zu schauen. Nur auf meine Füße muss ich achten. Aus meinem MP3-Player dudelt Bob Marleys “Three little Birds”. Und ich glaube ihm mal, alles wird gut. Es ist heiß, mein Shirt ist völlig durchgeschwitzt und ich stinke jetzt schon wie eine ganze Horde Hyänen. Und dann, nach gefühlten Stunden erreiche ich den Gipfel, ein Blick zurück verrät mir: Ich hab da echt ‘ne Partie hingelegt.
Und gerade jetzt setzt wieder mal ein schöner Schauer ein. Das kühlende Nass ist mir jetzt allerdings ganz lieb. Weiter geht es auf dem Rücken der Laddow Rocks, einen schmalen Pfad entlang, der direkt am Abhang entlangführt. Es ist schon ein wenig stürmisch hier oben. Einmal blöd stolpern und ich lande in der Tiefe. Mir wird an dieser Stelle wieder bewusst, dass der Pennine Way wirklich nichts für Angsthasen bzw. Leute mit Höhenangst ist, denn er bringt dich mitunter in ziemlich prekäre Situationen, in denen du fortwährend denkst: “Ach du Kacke, wie soll ich das bitte machen?” Vorsicht ist also geboten. Auch wenn die Landschaft um mich herum meine Augen fesselt, hier muss ich sie einfach auf den Pfad richten, sonst schlittere ich schneller, als ich denken kann in mein Unglück.
Aber alles geht gut. Schon wieder treffe ich auf die Jungensbande, die alle paar Meter eingeknickt am Wegesrand kauern und ich frage mich, ob sie wohl allmählich den Ansporn verlieren. Es geht langsam wieder bergab und eigentlich bräuchte ich jetzt auch mal ein Päuschen, um mir ein richtiges Mahl zuzubereiten. Als ich wieder im Tal bin entdecke ich ein perfektes Plätzchen an einem kleinen Bach, umgeben von hohem Gras und etwas windgeschützt. Der Regen hat sich inzwischen etwas verzogen und nun wird es Zeit, die Kochschürze umzubinden.
Meine Schweizer Freundin aus dem Nachbarort hat mir vor der Reise noch ein Überlebenspaket geschnürt und ein Survival-Currygericht mit hineingepackt. Das will ich mir jetzt auf dem Kocher warm köcheln. Doch als ich gerade beginnen will, höre ich hinter mir einen anderen Hiker sich lautstark niederlassen. David aus Lancashire ist ein richtiges Plappermaul. Er scheint den ganzen Weg einfach nur gelaufen zu sein, um sich mit jemandem unterhalten zu können. Ich schnappe nur Bruchstücke von seiner Erzählung auf. Er ist schon alle Trails in England gelaufen und geht den Pennine Way jetzt zum zweiten Mal, hat nur einen Tagesrucksack dabei, kann nicht fassen, dass ich dieses Ding auf dem Rücken schleppe und versucht mir die Vorteile seines GPS-Geräts nahezubringen. Ich habe einfach keine Kraft dafür und null Bock auf Konversation. Also drehe ich mich höflich nickend einfach ein wenig von ihm weg und klimpere weiter mit meinem Geschirr herum. Da ich den Kocher zum ersten Mal probiere und mir nur ungern dabei zuschauen lasse, warte ich noch ein wenig ab. Doch David bleibt wie angenagelt sitzen und plaudert weiter munter auf mich ein. Mir reicht’s jetzt, dann ess ich das Curry eben kalt. Der erste Bissen ist himmlisch. Ich glaube, das ist das beste Curry, was ich jemals gegessen habe, aber dann passiert es: Mein Gaumen schwillt plötzlich an, brennt wie die Hölle, kleine Bläschen bilden sich in meinem Mund. Und während ich langsam sauer werde, quasselt David hinter mir unbeeindruckt weiter. Und endlich schwingt er sich hoch und macht sich auf die Socken. Vorher lässt er mich jedoch wissen, dass er heute abend ins gleiche Pub geht wie ich. Na darauf habe ich noch gewartet. Dann macht er die Biege. Ich versuche noch einen Bissen herunterzukriegen, aber wieder schwillt alles an und ich gebe schweren Herzens auf. Ich muss weiter. Es nützt ja nichts.
Die nächste Etappe ist eine ziemlich rutschige Angelegenheit. Ich pansche durch Pfützen, bleibe im Modder hängen und wate auf glipschigen Steinen durch Flusslandschaften. Meine Nerven liegen blank. Es regnet in Strömen und ich habe Heimweh. Was mache ich hier draußen eigentlich?
Meine Motivation sinkt weiter als ich mich dem nächsten Berg nähere. Ich muss über Black Hill.
Black Hill in der Ferne. 582 Meter hoch.
Auf dem Gipfel angelangt bin ich klitschnass. Ich knipse kein Foto, eine Depression hat mich eiskalt erwischt. Ich wünsche mir nichts mehr als eine warme Tasse Kaffee, aber es ist zu stürmisch hier oben. Der kleine Kocher würde mir einfach davonwehen. Zähne zusammenbeißen und weiter geht’s. Ich treffe ein paar Spaziergänger unterwegs, die mir freundlich zunicken. Und dann laufen mir plötzlich wieder alte Bekannte über den Weg. Die fünf Jungs kehren um und laufen an mir vorbei in die andere Richtung zurück. Alle mit hängenden Köpfen. Ob sie wohl wieder nach Hause marschieren? Ich habe keine Kraft zu fragen und schleppe mich weiter voran. Mein Magen grummelt, aber mir wird übel, wenn ich nur an Essen denke. Das macht mir etwas Sorgen, aber ich bin jetzt eh am Tiefpunkt angelangt. Doch dann gelange ich an den Abhang und vor mir sehe ich vertrautes Terrain: Hinter den Hügeln erkenne ich Huddersfield.
Heimatliche Gefilde erscheinen am Horizont.
Das muntert mich auf. Jetzt kann ich nicht mehr allzu weit sein, denn meine Route führt heute witzigerweise fast bei uns zu Hause vorbei. Und als ich gerade herabsteigen will, bricht die Sonne durch die dunklen Wolken und vor mir erstreckt sich der unglaublichste Regenbogen, den ich je gesehen habe:
Was soll man dazu noch sagen. Ein Wunderwerk der Natur.
Ich stehe am Abhang und ich schluchze laut. Mir laufen Freudentränen über die verfrorenen Bäckchen und ich schöpfe wieder Hoffnung. Da kommt ein Pärchen mir entgegen und ich kann nicht anders, ich muss meine Freude einfach teilen: “Habt ihr das gesehen? Habt ihr das gesehen?”, kreische ich ihnen entgegen. Sie strahlen mich an und wir kommen kurz ins Gespräch. Sie erzählen mir, dass es nicht mehr weit ist und der letzte Teil ein schöner Spaziergang wird. Mein Herz ist wieder stark und ich laufe weiter, immer dem Ziel entgegen. Bergauf- bergab geht es Richtung A 635. Und hier kann ich endlich meine heiß ersehnte Tasse Wiener Melange genießen.
Man ahnt nicht, wie sehr ein Heißgetränk den Geist beleben kann. Ich sitze eine halbe Stunde an der Trockenmauer, hinter mir rauscht der Verkehr vorbei. Ich trockne meine Sachen im Gras und denke daran, wie viel ich bis jetzt schon gemeistert habe. Die Welt ist wieder in Ordnung und ich genieße diesen großartigen Moment, in dem die kleinen Dinge so viel zählen und das Leben herrlich unbeschwert ist.
Auch wenn ich hier Wurzeln schlagen könnte, ich liege im Zeitplan um Meilen zurück. Meine englische Familie wartet bereits in einem Pub auf mich, um mir noch ein paar Dinge zu übergeben. Also halt ich mich ran. Weiter über die Straße, an den Wessenden Reservoirs vorbei bis es wieder steil nach unten geht.
Doch wieder bin ich zu bequem, meine Karte zu lesen und frage eine ältere Dame mit Hund nach dem Weg. Sie geleitet mich auf einen Pfad und zeigt mir die Richtung an. Die kommt mir seltsam vor, aber ich gehe da jetzt einfach mal lang. Die nächste Dummheit, die ich bald bereuen werde. Aber erstmal gibt es Grund zu lachen, über mich selbst und meine Tolpatschigkeit. Ich gelange an ein Holztor, dass sich nur etwa 10 Zentimeter weit öffnen lässt. Unmöglich passe ich da mit meinem Rucksack durch. Ich bin genervt, weil ich den jetzt wieder abnehmen und dann über den Zaun wuchten darf. Gesagt, getan. Als ich mich dann selbst durch den engen Spalt quetschen will, merke ich, dass sich die Tür ganz normal, aber eben in die andere Richtung öffnen lässt. Ich kriege einen Lachkrampf. Die Situation ist einfach urkomisch. Wie kann man eigentlich so bescheuert sein.
Man ist doch selbst der größte Depp.
Ich habe schließlich doch noch meinen Weg gefunden. Und den Rest der Geschichte kennt ihr schon. Der zweimalige Bergaufstieg, das Irren über die Hochmoore von Marsden, der Kampf mit dem geschwächten Körper, meine Rettung nach zehn Stunden Wanderung. Aufgrund der Ungewissheit einer solchen Unternehmung ist es wichtig, in regelmäßigen Abständen, seinen Standort durchzugeben. Es gibt zwar unterwegs kaum Netzabdeckung, aber oft gibt es auf den Gipfeln zumindest ein winziges Signal, sodass man schnell mal eine SMS nach Hause schicken kann. Das ist für beide Seiten unheimlich wichtig, denn sollte wirklich mal etwas passieren, ist es einfacher, eine Suche zu starten. Ich musste auch lernen, dass ich dabei ehrlich bleiben muss, also zum Beispiel nicht schreibe, dass es mir gut geht, nur weil ich keinen in Sorge versetzen mag. Doch mein Problem war die mangelnde Energiezufuhr aufgrund meiner Naivität und fehlender Erfahrung. Dinge, die sich mir eingebrannt haben und die ich besser machen werde. Der Start auf dem Pennine Way war eine harte Schule, aber trotz des negativen Beigeschmacks, war es großartig, eindringlich, intensiv und atemberaubend schön. Ich bin gestolpert über meine Blauäugigkeit, aber stehe wieder auf und kehre mit einer Menge Erfahrungen zurück zu meinem Abenteuer…