Nach einer verfrorenen Nacht im sturmgepeitschten Minizelt mache ich mich kurz nach Sonnenaufgang auf die Socken. Alle meine Sachen sind
feucht vom Morgentau und da ich keine Lust habe, wieder Ordnung ins Chaos zu bringen, stopfe ich alles wahllos in meinen Rucksack. Eine schlechte Idee, wie mir meine Schultern bald mitteilen. Mir ist das jetzt Wurscht. Hauptsache weg hier.
Der Pfad führt hinterm Pub entlang über ziemlich unwegsames Gelände. Ich überquere Sleightholme Moor und stecke schon nach Minuten im Sumpf fest. Ich kann kaum noch Grasbüschel entdecken, auf denen ich mich mehr oder weniger sicher durch die lauernde Tiefe manövrieren kann. Und dann ist plötzlich der Pfad verschwunden. So sehr ich auch meine Augen zusammenkneife, vor mir liegt ein unüberwindbar scheinender Schlammteppich, der alles zu verschlucken droht, was sich darüber hinwegbewegt.
Und dann passiert es. Ein Augenblick der Unaufmerksamkeit und mein rechter Fuß steckt bis zur Wade im Moor. Ich kann ihn noch schnell herausziehen und mich auf ein Grasbüschel retten. Ich merke Panik in mir aufsteigen, ein widerwärtiges Kribbeln gepaart mit einem dumpfen Furchtgefühl, und trete den Rückzug an. Vorsichtig und mit bedachten Schritten stakse ich zurück zur Hauptstraße, setze mich erstmal, denke nach.
Auf der Karte entdecke ich eine Alternativroute, aber ich bin mir nicht sicher. Mein ganzer Körper zittert. Erstmal zurück ins warme Pub und dann Pläne geschmiedet. Als ich dort so am Feuerchen sitze und sinniere erzählt mir einer der Angestellten eine Geschichte, die ich besser nicht gehört hätte. Eine junge Amerikanerin sei vor Kurzem genau wie ich diese Strecke gelaufen und dann in ein Moorloch gesunken. Bis zum Hals habe sie im Schlamm festgesteckt. Das gibt mir den Rest. Ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Der Schock sitzt tief. Ich verkrümle mich in eine dunkle Ecke und versuche meine Ängste in den Griff zu kriegen. Da tauchen hinter mir plötzlich Dennis und Bob auf. Ich erzähle ihnen schluchzend von meinem Erlebnis im Moor. Ich bekomme eine lange, herzliche Umarmung und ein: “Ach Steffi, es ist alles gut. Du musst da nicht lang. Du kannst an der Straße langgehen.” Das gibt mir wieder Zuversicht. Ich reiße mich zusammen und mache mich wieder auf den Weg.
Doch je weiter ich komme, desto tiefer nagt der Schreck an mir. Ich male mir in Gedanken wahre Horrorszenarien aus von einem elenden Ende im Moor. Ich schleiche nur noch, komme kaum voran, bin lustlos und müde. Vielleicht wird es einfach Zeit nach Hause zu gehen. Die Hälfte liegt hinter mir.
Ich gelange an eine Wiese mit tiefen Modderlöchern. Erneut kriecht dieses scheußliche Panikgefühl in meine Adern. Meine Füsse verweigern sich. Vor mir ersteht eine unüberbrückbare Mauer. Ich kann keinen Schritt mehr gehen. Keinen einzigen. Ich greife zum Handy, rufe meinen Engländer an: “Bitte bring mich nach Hause”, flehe ich unter Tränen. Mein Wunsch wird erhört, doch es dauert ganze vier Stunden bis ich endlich im Auto sitze.
Inzwischen laufe ich zurück zum Pub, lasse mich mehrmals kraftlos ins Gras fallen. Ich kann einfach nicht mehr. Dann tschirpt mein Handy. Nicki ist wunderbarerweise gerade in Tan Hill eingetroffen. Sie läuft mir strahlend entgegen. Ich glaube an eine Illusion, eine Luftspiegelung. Diese wundervoll optimistische Frau ist mein Schutzengel auf dem Pennine Way. Und obwohl sie gerade einen Wahnsinnsfußmarsch hinter sich hat, schnappt sie sich meinen Rucksack und stürmt Richtung Pub. Just in diesem Moment rollt mein Engländer heran und ich bin aus einem Albtraum gerettet.
Im Pub wärmen wir uns auf. Nicki überzeugt mich, dass ich einfach nur einen Ruhetag brauche. Wenn ich jetzt aufhöre, werde ich vielleicht nie mehr auf den Pennine Way zurückkehren. Zu tief sitzt dann die Angst. Mein Kopf ist leer. Ich will nur nach Hause und später denken. Meine Kraftreserven sind erschöpft.
Und wie durch ein Wunder bin ich schon am nächsten Morgen wieder hergestellt. Und ich weiß, ich will nicht aufhören. Ich muss wieder zurück. Doch ich habe unglaubliche Angst davor.
Am Montagmorgen bringt mich mein Engländer zum dritten Mal zum Pennine Way zurück. Ich fühle mich furchtbar. Plötzlich fürchte ich mich vor allem, vor den Mooren, den Kühen, der Einsamkeit. Aber ich weiß, ich muss da jetzt durch, mich diesen Ängsten stellen. Mein Engländer geht ein Stück mit mir, dann bleibe ich allein zurück. Ich muss heute gleich durch mehrere Moore und lerne, meine Angst Schritt für Schritt zu überwinden, sie mehr als persönliche Lernchance, als als Bedrohung zu sehen. Und es geht! Ich komme sogar mit trockenen Füßen da raus. Der Weg nach Middleton wird zu einer meiner größten mentalen Lektionen auf dem Pennine Way. Ich lerne meine Ängste besser zu verstehen, sie in vernünftige Bahnen zu lenken und sie nicht Überhand nehmen zu lassen. Eine Erfahrung, die ich mein ganzes Leben lang schätzen werde.
Heute habe ich außerdem das gesehen: