Gegen sieben Uhr morgens werfen mein Engländer, seine Schwester Amy und ich unsere bis ans Maximum vollgestopften Rucksäcke ins Auto und treten mit müden Gesichtern die viereinhalbstündige Fahrt nach Schottland an. Im kleinen Örtchen Milngavie (sprich “Mullguy”), einer Vorstadt von Glasgow, das mir auf den ersten Blick wenig attraktiv erscheint, parken wir unser Gefährt am videoüberwachten Bahnhof. Der offizielle Startpunkt des West Highland Ways ist markiert durch einen steinernen Obelisken mitten in der belebten Shoppingmeile des Stadtzentrums.
Der West Highland Way beginnt tatsächlich mitten in einer Shoppingmeile.
Hier lassen wir uns noch schnell von einem nicht ganz nüchternen Einheimischen ablichten und biegen rechts auf den Trail ab. Auf den ersten Kilometern durchwandern wir die Park- und Waldlandschaften von Mugdock Wood, die dank des sonnigen Wetters mit lokalen Spaziergängern und sabbernden Hunden nur so übersät sind. Kein Wunder, denn dieses Areal ist ein beliebtes Ausflugsziel für wanderlustige Schotten und heute ist zudem Samstag. Die Aussichten auf die umgebende Landschaft sind allerdings wenig spektakulär. Ab und zu taucht zwischen den Zweigen ein Hügelchen auf, das ganz nett anmutet, uns aber kaum aus den Socken haut.
Unspektakuläre Parkanlagen zieren den Beginn des Trails.
Irgendwie hatten wir uns den West Highland Way etwas rauer und wilder vorgestellt, mit schwierigen Kletterpartien entlang felsiger Kliffe und fordernden Hindernissen, doch am ersten Tag schlängelt sich der Pfad fein säuberlich in die Landschaft gekerbt auf ebenen Trassen dicht an Industriegebieten und entlang befahrener Straßen dahin. Meine Laune seilt sich allmählich immer tiefer ab, als wir schließlich doch noch weiter ins offene Land vorstoßen und den ersten glitzernden See erblicken. Wir passieren Craigaillan Loch. Hier sind die Schotten übrigens sehr penibel. Ihre Seen sind keine “lakes”, sondern “lochs”. Wer das nicht kapiert, wird auch schonmal abgemahnt. Was eigentlich recht gemein ist, denn die Engländer können das Wort nämlich gar nicht richtig aussprechen und sagen “lok” statt “loch”. Da sind wir Deutschen klar im Vorteil.
An Carbeth Loch stoßen wir auf eine kleine Siedlung mit rumpeligen Ferienbungalows, die entweder gerade renoviert werden oder mit Absicht einen gewissen baufälligen Charme versprühen sollen. Ich frage mich generell, wer hier zwischen einem halb abgeholzten Waldstück und einem fragwürdigen Gewässer überhaupt Urlaub machen will. Aber die bruchreifen Büdchen scheinen allesamt ausgebucht.
Schmucke Hideaway Chalets im Nirgendwo.
Mittlerweile knurren unsere Mägen laut hörbar und wir lassen uns zu einem nachmittäglichen Tomatensüppchen unter knarrenden Koniferen nieder. Mein Engländer schwingt den Kochlöffel und gibt diesen auch für die nächsten Tage nicht mehr her. Wir haben im Vorfeld nämlich eine strikte Arbeitsteilung beschlossen.
Ein heißes Süppchen unter schottischen Koniferen.
Während wir so gemütlich auf dem weichen Waldboden kauern, vergesse ich glatt das lauernde Unheil im Unterholz: die schottische Natter (Vipera Berus). Es ist die einzige Giftschlange, die in Schottland ihr Unwesen treibt und ihr Biss ist für einen erwachsenen, gesunden Menschen zwar nicht unbedingt tödlich, kann aber eine üble, sehr schmerzhafte Entzündung hervorrufen. In der Regel beißt das Tierchen zwar nur zu, wenn es wirklich arg provoziert wird, aber wie schnell ist ein Fuß mal eben auf einen herumliegenden Ast gesetzt, unter dem eine Natter ihren Sonntagsschlaf abhält. Ich frage mich, ob diese plötzliche Gelassenheit gegenüber potentiell gefährlichen Tieren auch für eine Wanderung durch Alaska gilt und man sich nach ein paar Stunden in freier Wildbahn denkt: “Ach na ja, so schlimm wird’s schon nicht werden. Und vielleicht treffe ich ja auch nicht einen einzigen Bären an.” Apropos Alaska. Aufrgund seiner ähnlichen Vegetation wird Schottland auch das “Alaska Großbritanniens” genannt.
Bald schon raffen wir uns wieder auf, denn die Uhr tickt. Uns bleiben nur noch wenige Stunden, um den Campingplatz noch bei Sonnenlicht zu erreichen. Und nun wird es doch noch ansehnlich. Wir durchlaufen das sonnendurchflutete Blane Valley, in dessen Mitte der bewaldete Hügel Dumgoyach wie ein übermächtiger “Klumpen” thront. Über seinem Gipfel kreisen hungrige Bussarde. Dass auf dieser gerade einmal 150 Meter hohen Erhebung überhaupt Bäume wachsen verdankt sich einer strikten Umzäunung, um hungrige Schäfchen fernzuhalten. Also immer schön die Tore hinter euch schließen. Der Pfad ist von leuchtendgelben Stechginsterbüschen (oder wie sie mein Engländer liebevoll getauft hat: yellow spikeus) gesäumt und um uns herum ragt die Silhouette der Campsie Fells empor. Ganz in der Ferne ragt Ben Lomond am Horizont auf. Dort beginnen die Highlands.
Kaum nehmen wir an, wir hätten die Zivilisation endgültig verlassen, taucht vor uns ein pastellblauer Wohnwagen auf und ein hellblonder Typ rennt uns aufgeregt entgegen. In seinen Händen hält er einen weißen Plastikeimer.
“Hey Ihr da? Gehört ihr zusammen?”
“Äh ja”, stammeln wir irritiert.
“Also wir sind ein wohltätiger Verein, der sich um die Instandhaltung des West Highland Ways kümmert. Bei uns gibt’s auch kostenlos Kaffee, Tee und Snacks für Wanderer. Wir sammeln den Müll auf und so weiter. Eigentlich machen wir alles. Es wäre toll, wenn ihr was spenden würdet.”
“Ja klar”, geben wir uns höflich und suchen verzweifelt nach etwas Kleingeld.
“Am besten wären Scheine. Wir empfehlen generell fünf Euro pro Person.”
“Hä Moment mal”, denke ich, die ungewohnt forsche Art des Spendeneintreibers verursacht mir leichte Bauchschmerzen. Doch für einen Rückzieher ist es zu spät. Die Schwester meines Engländers hat soeben eine Zehn-Pfund-Note in den Eimer gesteckt. Tee und Kaffee gibt es nicht. Wir ziehen geprellt von dannen.
“Der sah doch dem Londoner Bürgermeister zum Verwechseln ähnlich”, gibt Amy zu Bedenken. Und tatsächlich hat sie Recht. Die olle Skandalnudel Boris Johnson hat uns mal eben über den Tisch gezogen, an unserem ersten Tag mitten auf dem West Highland Way. Tsss…
Für sechs Kilometer folgen wir dem Bett einer stillgelegten Eisenbahnstrecke und passieren die erste Whisky-Brennerei, die Glengoyle Distillery. Den Flachmann haben wir zwar dabei, aber den kurzen Umweg zur Brennerei sparen wir uns. Die Zeit ist leider zu knapp. Über offenes Farmland gelangen wir nach Gartness. Unser Campingplatz liegt hier direkt auf dem Gehöft eines Coffeeshops. Doch als wir dort ankommen ist dort alles dicht. Der Hof leer, das Gebäude abgedunkelt. Campen tut hier heute niemand. Uuups. Ich versuche vergeblich jemanden telefonisch zu erreichen. Die Leitung ist stillgelegt.
Wir sind ziemlich alle, die Füße schmerzen, der Magen verlangt nach einem reichhaltigen Nahrungsangebot. Hilft alles nichts. Missmutig schnallen wir unsere Rucksäcke auf. Ein paar Kilometer weiter liegt ein weiterer Campingplatz: Drymen Camping. Dieser ist direkt an eine Farm angeschlossen, verfügt über schmuddlige Toiletten, verschlossene Duschkabinen und einen überdachten Bereich für widriges Wetter. Alles so, wie es sein soll. Doch der Besitzer scheint sich wenig für seine Gäste zu interessieren. Wir bekommen ihn nicht zu Gesicht. Eine Ehrlichkeitskasse steht im überdachten Teil bereit. Wer will, zahlt oder prellt eben die Zeche.
Der Zeltplatz in Drymen. Hier kann man bei Bedarf auch Winnetou spielen und sich ein Wigwam mieten.
Der Rasen ist bereits gerammelt voll. Miesepetrig entscheiden wir uns für eine leicht abschüssige Fläche. Amy schläft in meinem Single-Zelt und muss sich erst noch mit dem Aufbau vertraut machen. Ein hochnäsiger deutscher Hiker mit Bommelmütze und Besserwissergesicht belagert die Ärmste sogleich mit schlaumeierlichen Kommentaren. Das verdirbt mir endgültig den Abend und ich bin mir nicht mehr sicher, ob der West Highland Way eine gute Entscheidung war. Mein Engländer kehrt plötzlich den Bestimmer raus und ich weiß vor Erschöpfung nicht mehr wohin mit mir. Meine komplette Hüfte ist aufgeschrammt, meine Schultern wund. Also verdrücke ich mich erstmal aufs Klo und als ich dank einsetzender Verdauungsprobleme nach einer geschlagenen halben Stunde wiederkomme, stehen die Zelte und das Kochgeschirr klappert. Es gibt indisches Outdoorcurry und getrocknete Nudelpampe. Zum Nachtisch M & Ms. Köstlich! Mit gefüllten Mägen und gehobener Stimmung kuscheln wir uns in unsere viel zu dünnen Schlafsäcke und bibbern uns bei Minusgraden in einen kurzen, unruhigen Schlaf.