Sylvia Plath. Die Glasglocke

Von Masuko

Ihr Ton ist schnodderig, kühl, manchmal frech. Scheinbar emotionslos. Esther Greenwood ist aber weder kühl noch unsensibel. Sie ist ein “kleines Mädchen” in der großen Stadt. 1953 kommt sie für ein Volontariat bei einer angesehenen Modezeitschrift aus Boston nach New York. Sie will sich perfekt verhalten, will alles richtig machen. Doch hinter ihrer Coolness und dem schnodderigen Ton verbirgt sich eine extrem empfindsame Seele. So empfindsam, dass Esther eines Tages zu Tabletten greift. Sie leidet unter einer schweren Depression, hat das Gefühl, unter einer Glasglocke zu sitzen, in welcher sich der Dunst wie Watte um sie schiebt, bis sie sich nicht mehr rühren kann. Den Vorschlag ihrer Mutter, zu verreisen, lehnt sie ab, denn … egal, wo ich saß – ob auf dem Deck eines Schiffes oder in einem Straßencafé in Paris oder Bangkok -, immer saß ich unter der gleichen Glasglocke in meinem eigenen sauren Dunst (S. 200). 

Doch das ist erst am Ende dieser Wahnsinnsgeschichte.
Vorerst …. New York! Cocktails! Schnelle Autos! Dinner auf Dachterrassen … Und Esther trägt ein enges Röhrenkleid aus schwarzer Schantungseide, welches sie 40 $ gekostet hat. Ich war so dünn wie ein Junge und auch fast so flach (S. 14). Für die damalige Zeit muss Esther außerdem sehr groß gewirkt haben. Von sich selbst sagt Esther: Ich bin ohne Schuhe einssiebzig, und wenn ich mit kleinen Männern zusammen bin, bücke ich mich immer ein bißchen und knicke in der Hüfte ein, damit ich kleiner aussehe, aber dabei komme ich mir albern und krank vor, wie eine Schaubudenfigur (S. 16). 

Das New York der 50er Jahre saugt mich beim Lesen in sich auf, es ist, als würde ich einen Dokumentarfilm schauen. Gemeinsam mit den anderen Mädchen aus der Mode-Redaktion zieht Esther durch die Stadt. Ihr Blick ist zynisch, spöttisch, kritisch. Ein dunkler Schatten hängt dennoch über diesem Roman, der so glitzernd beginnt …

Am 11. Februar 1963 nimmt Sylvia Plath sich das Leben. Wie ihre Romanfigur Esther kommt auch sie 1953 als Volontärin nach New York. Wie Esther leidet sie seit dieser Zeit an Depressionen. Gesprächstherapie? Autogenes Training? Wozu, wenn es doch Elektroschocktherapie gibt.
Glücklicherweise wird Esther verlegt nach Belsize, wo den Patientinnen kein Strom verabreicht wird. In Caplan bekamen viele Frauen Schockbehandlungen … später kamen sie in den Aufenthaltsraum, still und erloschen, von den Schwestern wie Kinder geführt (S. 220). 

Willkommen in Ken Keseys “Kuckucksnest” – einem Roman aus dem Jahr 1962. Der Autor beschreibt darin die unzumutbaren Zustände, die Willkür und das Ausgeliefertsein der Patienten in einer psychatrischen Klinik. Grandios verfilmt von Milos Forman mit Jack Nicholson.  Auch folgende Szene aus der Glasglocke erinnert an Ken Keseys zynischen Schreibstil. Es gibt Mittagessen und Esther ist nicht schnell genug, sie wird von einem Pfleger mit einer frechen Verbeugung Das Fräulein Etepetete genannt. Grüne Bohnen in der ersten Terrine … Ich nahm den Deckel von der zweiten Terrine und enthüllte einen Knäuel Makkaroni, eine einzige klebrige Masse und eiskalt. Die dritte und letzte Terrine war bis obenhin mit Baked Beans gefüllt. Nun wußte ich allerdings genau, daß man zu einer Mahlzeit nicht zwei Sorten Bohnen serviert. Bohnen und Möhren, Bohnen und Erbsen, vielleicht. Aber niemals Bohnen und Bohnen (S. 197).

Herrlich! Ich möchte unzählige solcher Textstellen zitieren. Ich liebe diesen Erzählton, möchte gern viel mehr lesen von ihr. Doch “Die Glasglocke” bleibt ihr einziger Roman. Ich stehe hier voller Ehrfurcht. Vor der Autorin. Vor ihrer Geschichte. Vor ihrem Roman. Der so hochdramatisch, tieftraurig und unglaublich schön ist. Kein Wunder, dass “Die Glasglocke” damals zum Kultbuch avancierte, bis heute von Unzähligen gelesen wird und unvergessen bleibt. Mehr als 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung!

Ich hätte Sylvia Plath mehr Mut gewünscht. Außerdem eine Behandlung ihrer Depression jenseits von den von ihr beschriebenen blauen Volts, welche nur Lärm im Kopf machen. Ich hätte ihr gewünscht, mehr als nur diesen einen Roman zu schreiben. Mit 31 Jahren zu gehen, das ist viel zu früh. Der Druck für sie als Autorin, Ehefrau (sie war einige Jahre verheiratet mit dem Schriftsteller Ted Hughes) und Mutter von zwei kleinen Kindern muss einfach zu groß für sie gewesen sein. Professionelle Hilfe in dieser Zeit undenkbar.
Ich denke heute ganz besonders an Sylvia Plath. Am 14. Januar 1963 wurde “Die Glasglocke” veröffentlicht.

Sylvia Plath. Die Glasglocke. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Suhrkamp Taschenbuchverlag. Berlin 2015. 262 Seiten. 8,99 €