Foto: Tom Check via ww.flickr.comphotostombothetominator2450202403inset-72157604462846523
Unser in Belgrad lebender Gastautor, Balkan-Experte und guter Freund Johannes Rüger hat endlich den Ort gefunden, an den wir eigentlich alle immer sein wollen: Den Mittelpunkt der Welt. Wo dieser sich befindet? Natürlich in der Provinz…
Die Provinz stirbt aus. Überall verlassen Menschen ihre Dörfer und ziehen in die Großstädte, auf der Suche nach Arbeit und einer besseren öffentlichen Infrastruktur. Meist sind es die Alten, die zurückbleiben, während die Jugend ihre Heimat verlässt. Auch Svrljiška Topla, ein Dorf im Südosten Serbiens ist von dieser Entwicklung nicht verschont geblieben. Wo einst 800 Menschen lebten, kann man heute nur noch knapp 60 Personen antreffen. Doch während man sich in Brandenburg noch Sorgen um die aus Polen eingewanderten Wölfe macht, ist man in Serbien schon einen Schritt weiter. Zwei findige junge Leute, die Regisseurin Lee Filipovski und Predrag Ristić zeigen, wie man ein Dorf wie Topla aus seiner kulturellen Lethargie befreit: Indem man es zum Mittelpunkt der Erde erklärt. Im Gespräch mit Johannes Rüger aka. balkanjoe erzählen sie von ihrer Motivation und darüber, wie jeder sein Dorf zum Zentrum der Erde machen kann.
Balkan Joe: Dieses Jahr ist Topla schon zum zweiten Mal der Mittelpunkt der Erde. Wie kam es dazu, dass ihr ausgerechnet Topla für das interdisziplinäre Kunstfestival ausgewählt habt?
Lee: Als wir beide Teenager waren, sind unsere Eltern mit uns hierher gefahren, um uns für ein paar Tage aus der Stadt zu lotsen. Wir waren Punks und fanden es total öde auf dem Dorf. Damals hatte jemand ein Schild aufgestellt mit der Aufschrift Svrljiška Topla – Der Mittelpunkt der Erde. Wir haben uns darüber tagelang amüsiert und so ist der Name hängengeblieben. Als wir dann Jahre später nach einem Namen für das Festival gesucht haben, kam uns die Idee, es „Mittelpunkt der Erde“ zu nennen. Wir dachten, dass die Dorfbevölkerung es schön finden würde, wenn ihr Dorf einmal im Jahr der Mittelpunkt der Erde ist.
Predrag: Home is where the heart is. Die Menschen hier haben uns sehr herzlich aufgenommen und während der Zeit des Festivals fühlen wir uns als Teil der Dorfgemeinschaft. Auf diese Weise ist Topla für uns so etwas wie ein zweites zu Hause geworden.
BK: Topla ist, wie viele serbische Dörfer, buchstäblich vom Aussterben bedroht. Wann habt ihr euch entscheiden, etwas zu unternehmen?
Predrag: Nun, Lee’s Familie kommt aus Topla, also hatten wir zumindest ein Haus, eine Basis, von der aus wir das Festival organisieren konnten. Außerdem kennt jeder im Dorf Lee und ihre Familie, sodass wir von Anfang an große Unterstützung erfahren haben.
Lee: Predrag und ich hatten schon vor Jahren die Idee, hier etwas zu veranstalten, wussten aber nicht genau was. Irgendwann wurde uns klar, dass es schön wäre, alle unsere Freunde, von denen sich viele mit Kunst beschäftigen, hierher einzuladen.
Predrag: Es gibt hier einfach nichts zu tun, vor allem für die jüngere Generation. Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal, es gibt kein Kino, keine Lokale, keinen Sportverein und sicher keine Musikschule oder etwas Ähnliches. Die Menschen hier gehen abends um sechs schlafen, weil sie nichts mit sich anzufangen wissen. Das Dorf hat durch das Festival eine echte Revitalisierung erfahren. Die Kinder und Enkel der meisten Dorfbewohner leben schon lange nicht mehr hier und kommen auch nur sehr selten zu Besuch, aber während der Zeit des Festivals ist das Dorf brechend voll. Die Menschen kehren zurück, um ihre Eltern bzw. Großeltern zu sehen und am Abend die Konzerte zu hören oder einen Film anzuschauen. Ich finde es sehr schön, denn normalerweise wandern die Menschen aus Topla ab. Vor ein paar Tagen kam eine Frau, die seit 40 Jahren nicht hier gewesen war. Abends traf sie eine Schulkameradin, mit der sie die Sitzbank geteilt hatte. Dieser Moment, als die beiden alten Damen sich umarmten, war unvergleichlich.
Ruinöses Haus in Topla. Foto: Predrag Ristić
BK: Nun sind während der Zeit des Festivals ja nicht nur Menschen aus dem Dorf hier, oder solche, deren Familien von hier stammen, sondern auch Künstler aus dem Ausland, u.a. aus England, Finnland, Schweden, Deutschland, Amerika und sogar jemand aus China. Vermutlich hatten einige Menschen hier zuvor noch nie einen Chinesen gesehen. Wie kommen Dörfler und Besucher aus dem Ausland miteinander zurecht?
Lee: Das Wunderbare an der serbischen Kultur ist, dass die Menschen sehr gasfreundlich sind und stets versuchen, Ausländer zu beeindrucken. Alle Teilnehmer des Festivals schlafen in privaten Häusern hier im Dorf, denn ein Hotel gibt es nicht. Sie alle werden bewirtet mit Essen, Bier und selbst gebranntem Schnaps. Keinem der Dorfbewohner würde es in den Sinn kommen, Geld dafür zu verlangen. Außerdem haben viele Menschen hier das Bedürfnis, die guten Seiten Serbiens zu zeigen. Viele der Gäste sind direkt vom Flughafen hierhergekommen, haben also Belgrad und die anderen großen Städte nicht gesehen. Den Dörflern ist klar, dass sie diesen Gästen den ersten Eindruck von Serbien vermitteln und darum bemühen sie sich sehr. Natürlich bedeutet das, dass einige der Besucher aus dem Ausland mit einem romantisierten Bild von Serbien in ihre Heimatländer zurückkehren, aber ich finde das nicht schlecht. Serbien hat auf der ganzen Welt ein traditionell mieses Image, viel mieser als das Land es verdient hat. Deshalb freue ich mich, wenn es Predrag und mir gelungen ist, dazu einen Kontrapunkt zu setzen. Natürlich sind nicht alle Serben Kriegsverbrecher, auch wenn eine solche Wahrnehmung weit verbreitet ist. Für mich ist es eine wunderbare Erfahrung, wenn Leute aus dem Ausland kommen und sich tatsächlich wundern, dass sie keine Spuren des Krieges sehen, sondern überall auf offene Türen und hilfsbereite Menschen stoßen.
BK: In gewisser Weise tragt ihr also buchstäblich zur Völkerverständigung bei.
Predrag: Das stimmt, obwohl wir nie eine ideologische Linie verfolgt haben. Wir wollten einfach zeigen, dass es schöne Plätze in Serbien gibt und man hier eine schöne Zeit verbringen kann.
BK: Was waren die Highlights des diesjährigen Festivals?
Predrag: Für mich persönlich war es der Vortrag eines jungen Mannes aus Nis, der nach China und zurück getrampt ist. Für viele junge Serben scheint es unmöglich, weit zu reisen, weil sie kein Geld haben und nur sehr schwer an ein Visum kommen. Dieser Kerl hat ihnen gezeigt, dass es doch möglich ist. Auch die Workshops haben das Programm sehr bereichert, ob es dabei um Musik, Schmuck, Fotografie oder Computer ging. Viele der Kinder, die hier leben, sind noch nie mit einer digitalen Kamera in Berührung gekommen, geschweige denn mit Photoshop oder einem ähnlichen Programm. Hier auf dem Dorf sind sie von der Außenwelt beinahe vollkommen isoliert. Sie kennen diese Techniken und ihre Möglichkeiten nicht. Das kann und darf nicht so bleiben, denn sonst sind sie eines Tages vom Fortschritt der Gesellschaft abgehängt. Auch für unsere Gäste ist es eine neue Erfahrung, dass es junge Leute gibt die das Internet nicht regelmäßig nutzen. Erst wenn sie hierher kommen, wird ihnen klar, mit welcher Selbstverständlichkeit sie jeden Tag auf Google, Facebook oder digitale Technik zurückgreifen.
Musikworkshop für Kinder. Foto: Predrag Ristić.
BK: Läßt sich euer Ansatz auf andere Dörfer in Serbien übertragen?
Lee: Nun, ich denke, es kommt vor allem darauf an, wie engagiert man ist und wie viele Leute man zusammentrommeln kann, die bereit sind, sich auch ohne Bezahlung einzubringen. Alle, die hier etwas beigetragen haben sind Freunde von uns. Das Gute ist, dass es in Serbien selbst im letzten Dorf eine Stadthalle gibt, die meist während des Sozialismus gebaut wurde. Mit anderen Worten, die Infrastruktur ist da. Man muss sie nur nutzen.
BK: Wie sehen eure Pläne für die Zukunft aus?
Predrag: Nächstes Jahr würden wir gerne einen Regieworkshop veranstalten, für den Zelimir Zilnik, einer der bekanntesten serbischen Regisseure, bereits zugesagt hat. Er hat zu Beginn seiner Karriere mit minimalen Budgets fantastische Filme gedreht. Diesen Spirit würden wir gerne nach Topla holen, einfach um zu zeigen das alles möglich ist, wenn man von seiner Idee überzeugt ist.
Interview: Johannes Rüger aka balkanjoe
Hier geht´s zur FB-Seite des Festivals.