Sven Lehmann im Gespräch

Im Blog “Freiheitsliebe” ist ein sehr lesenswertes Interview mit Sven Lehmann, dem Landesvorsitzenden der Grünen in NRW erschienen. Hier Auszüge daraus:

Sven Lehmann

Sven Lehmann

Freiheitsliebe: Du hattest es gerade kurz angeschnitten: Du sagtest, dass die Grünen eben nicht mit der SPD und der Partei „Die Linke“ auf einer Wellenlinie sind, was das „links sein“ angeht. Könntest du das genauer ausführen? Sieht du die Grünen im „linksliberalen Lager“, oder doch im „linken Lager“?

Sven Lehmann: Die Grünen sind auf jeden Fall eine linke Partei und zwar „links“ in dem Sinne, dass es den Grünen um gleiche Rechte für Alle und Gleichberechtigung geht. Es geht uns auch um Umverteilung, also die Verteilung von Oben nach Unten und damit eben auch mehr Rechte für mehr Menschen. Das ist sicherlich ein grünes Ziel und damit sind die Grünen auch eine linke Partei. Wir definieren das aber nicht so, dass wir staatliche Bürokratie ausbauen wollen, sondern indem zum Beispiel durch gute Bildung jeder Mensch in die Lage versetzt wird, gleichberechtigt zu leben. Das heißt, dass es wirklich darum geht, dass die Chancen jedes einzelnen Menschen im Mittelpunkt steht und dazu gehört es eben, das ganze nicht nur durch staatliche Umverteilung regeln zu wollen.

[...]

Freiheitsliebe: Du hast gerade die „heutigen“ Grünen mit den „damaligen“ Grünen, bzw. die Grünen vor der Regierungsbeteiligung auf Bundesebene und danach verglichen. Die Grünen haben die Hartz-Gesetze mitgetragen und deine Kritik daran kennen wir. Ist es eine Kritik an Hartz IV selbst, oder am ganzen System?

Sven Lehmann: Den Ansatz bei den Hartz-Gesetzen fand ich richtig, denn damals gab es einmal die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe und die Menschen wurden zwischen beiden Systemen hin und her gezogen, wodurch sie nicht richtig gefördert werden konnten. Diese beiden Systeme zu einer Grundversicherung zu verbinden, war ein richtiger und wichtiger Ansatz. Das Problem war einfach nur, dass man damals gedacht hat, dass man jeden Menschen in Arbeit bringen kann, aber man hätte wissen müssen, dass es nicht genügend Erwerbsarbeit für jeden gibt. Man geht weiterhin davon aus, dass Vollerwerbstätigkeit möglich ist und dass jeder Mensch eine Lohnarbeit bekommen kann, diese Annahme halte ich grundsätzlich für falsch.
Aus diesen Gründen finde ich auch Hartz IV falsch, denn wir müssen perspektivisch neu denken und darauf aufmerksam machen, dass jeder Mensch ein Recht auf soziale Sicherheit und Teilhabe hat, egal ob er in Erwerbsarbeit ist oder nicht. Als erste Maßnahme müssen wir natürlich die Regelsätze erhöhen, aber wir brauchen langfristig ein ganz anderes Sozialsystem.

[...]

Freiheitsliebe: Dass Vollerwerbstätigkeit nicht mehr zustande kommen kann, hast du gerade angesprochen. Im Weiteren sagtest du, dass ein Mensch auch ohne Erwerbstätigkeit an der Gesellschaft teilhaben sollte, zum Beispiel durch kulturelle Aktivitätenoder soziales Engagement. Worin siehst du denn eine Lösung des Problems? Im Bedingungslosen Grundeinankommen?

Sven Lehmann: Ja, denn ich sehe jeden Mensch als arbeitenden Mensch innerhalb einer Gesellschaft.
Der Mensch arbeitet, indem er Kinder erzieht, ältere Menschen pflegt, sich in Sportvereinen engagiert, indem er sich künstlerisch betätigt, Jugendliche betreut und und und. Es wird sehr viel Arbeit innerhalb einer Gesellschaft geleistet, aber diese Menschen bekommen dafür kein Geld. Sie bekommen nur Geld, wenn sie Lohnarbeit nachgehen. Wenn jeder Mensch eine „Existenzsicherung“, oder ein „Bedingungsloses Einkommen“ hätte, wäre er frei sich zu entscheiden, welcher Arbeit er nachgehen möchte. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass Menschen arbeiten möchten und ich gehöre nicht zu denen, die denken, dass die Menschen nur auf der faulen Haut liegen würden. Sie wollen entweder Arbeit nachgehen, um mehr Geld zu haben und sich so auch mehr leisten zu können, oder sie wollen sich mehr engagieren, um ihren Kindern etwas Gutes zu tun, sich im Sportverein zu engagieren, etc.
Wenn der Mensch freier ist in seinen Entscheidungen, dann wird sich auch unsere Gesellschaft positiv verändern. Zum Beispiel würden Menschen nicht mehr genötigt, bloß wegen des Geldes Jobs zu Dumpinglöhnen anzunehmen oder sittenwidrige Arbeitsbedingungen zu schlucken.

Freiheitsliebe: Unter den Grünen ist das BGE umstritten und die Vorstellung eines BGE hat sich bei den Grünen noch nicht durchgesetzt. Bist du optimistisch was die Aufnahme des BGE in das Grundsatzprogramm angeht?

Sven Lehmann: Die Idee des Grundeinkommens wird in allen Parteien diskutiert, das sollte man vorweg sagen. Es gibt Arbeitsgemeinschaften und bedeutende Vertreter dieser Idee. Es gibt aber keine Partei, die diese Idee auf Bundesebene durchgesetzt hat. 2007 gab es diese Diskussion auf dem Bundesparteitag der Grünen zum Thema Sozialpolitik: Mit 42% scheiterte der Antrag zum BGE.
Das heißt, dass es fast schon gelungen wäre, das BGE als Forderung innerhalb der Grünen zu etablieren. Ich glaube aber auch, dass danach höchstens eine Pause bei diesem Thema eingelegt wurde. Die Grünen diskutieren schließlich weiterhin über das BGE.
Wir sollten uns in Zukunft damit auseinandersetzen, wie wir solch ein Modell finanzieren und umsetzen würden. Mit dieser Vorgehensweise könnten wir in den nächsten Jahren als erste deutsche Partei das BGE beschließen.

[...]

Freiheitsliebe: Wir sehen in unserer Demokratie klare Defizite: EinwanderInnen, die eine andere Bildungspolitik möchten, dürfen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht wählen.
Wir kennen viele Jugendliche, die sich mit der deutschen Politik auseinandersetzen, jedoch aus der Demokratie ausgeschlossen werden! Ist das eigentlich akzeptabel?

Sven Lehmann: Das ist ein Skandal! Für jeden Menschen, egal welcher Herkunft, gilt, dass er Entscheidungen mittreffen dürfen muss, die ihn betreffen!
Bei jeder Volksentscheidung, bei jedem Bürgerbegehren, bei jedem Bürgerentscheid, die alle Menschen betreffen, sollten auch alle mitentscheiden dürfen. Punkt! Eine ganz einfache Grundregel. Dafür werden wir als Grüne auch weiterhin uns einsetzen und daran arbeiten.

Freiheitsliebe: Das demokratische Miteinander fehlt in gewissen Maßen auch an Schulen: Wir sehen ein Problem darin, wie die heutige Jugend miteinander umgeht! Rassistische und homophobe Aussagen sind längst im Alltagswortschatz verankert. Gibt es von der jetzigen Bildungsministerin klare Vorstellungen, um dieses Problem zu bekämpfen?

Sven Lehmann: Zunächst möchte ich auf die Shell-Studie hinweisen: Beim ersten Lesen sieht man, dass die Jugend optimistischer in die Zukunft blickt, als vor vier Jahren. Jedoch die Zahl der Jugendlichen, die pessimistisch in die Zukunft blicken, ist auch angestiegen. Das ist erstmal ein alarmierendes Signal.
Was ich auch gelesen habe, dass fünfzehn Prozent aller befragten Jugendlichen nicht möchten, dass in ihrer Nachbarschaft entweder ein Jude, ein homosexuelles Paar, oder ein russischer Einwanderer wohnt. Schlimm!
Wir müssen in der Tat an Schulen ansetzen mit Projekten wie „Schlau NRW“ (Schwul-Lesbische Aufklärung NRW).
Diese Aufklärungsarbeit, wurde von der Schwarz-Gelben Regierung vernachlässigt, bzw. platt gemacht. Dieses Projekt wird jetzt wieder gestärkt und wir möchten auch diese Problematik stärker angehen, indem wir es flächendeckend an möglichst allen Schulen umsetzen.

Freiheitsliebe: Das Thema „Rassismus“ hat in den letzten Wochen dank Herrn Sarrazin die Medien beherrscht. Die Thesen von Sarrazin haben sehr viele Menschen in Deutschland beschäftigt, wozu ich auch noch hinzufügen kann, dass sein Buch ausverkauft ist. Bist du der Meinung, dass wir mehr gegen Islamophobie machen können, wenn wir es z.B. mit der Arbeit gegen Antisemitismus vergleichen?

Sven Lehmann: Zuerst möchte ich etwas betonen: Thilo Sarrazin ist ein Rassist!
Seine Thesen zur Abstammungslehre erinnern sehr stark an die Nationalsozialistische Zeit in Deutschland. Mich stört der Hype, der um Sarrazin gemacht wird. Würde er die eigentlichen Probleme der Integrationspolitik ansprechen, dann könnte man das diskutieren, aber alle stürzen sich auf seine Person und seine kruden Thesen. Mein Vorwurf lautet, dass er gezielt über ethnische Abstammung und über Fremdsein spricht, aber nicht über soziale Probleme.
Faktisch sind die Probleme, die wir in Deutschland haben, soziale Probleme und keine ethnischen Probleme: Wir wissen zum Beispiel, dass Menschen mit Migrationshintergrund nicht die gleichen Chancen im Bildungssystem haben, wie es Deutschstämmige haben. Das sind Probleme, über die er diskutieren könnte und jeder hätte direkt gesagt, dass das stimmt. Er macht es aber nicht!

Das zweite ist, dass in unserer Gesellschaft Ängste existieren, denn sonst wären nicht alle auf sein Buch, eingestiegen.

Ängste sollte man aber auch nicht vom Tisch wischen: Wenn jemand Angst hat, dass eine Moschee gebaut wird, ist das nicht unbedingt rechtsradikal oder rassistisch, sondern es ist eine Angst vor etwas Fremdem. Angst ist erstmal nicht strafbar Man muss dann darüber aufklären und Begegnungen ermöglichen, um Ängste abzubauen.

Die Grünen haben eine hohe Glaubwürdigkeit in der Integrationspolitik und wir stehen seit jeher für gleiche Rechte für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Wir Grünen können deswegen auch darüber sprechen, dass es Ängste in der Bevölkerung gibt. Wir können auch darüber diskutieren, dass in einigen muslimischen Familien keine gleichen Rechte unter Frauen und Männern gelten – übrigens genauso wie in einigen christlichen Familien. Darüber muss man sprechen, auch mit Migrantenverbänden.
Wir organisieren bei uns im Landesverband gerade ein Forum für Integration, damit wir über solche Probleme diskutieren können. Es wird nicht nur um Chancengleichheit gehen oder um die Einbürgerung des Islam, sondern auch um die Herausforderungen, die die islamischen Verbände haben.

Freiheitsliebe: Werden solche Vorurteile nicht auch durch die Medien aufgeheizt? Kriminalität unter Ausländern wird häufiger in den Medien debattiert, dabei hat doch diese Kriminalität nichts mit der Herkunft zu tun…Kriminalität hat keine Nation!

Sven Lehmann: Das stimmt absolut! Ich finde es auch nicht akzeptabel, dass bei Steckbriefen der Polizei in der Beschreibung steht „türkisch aussehender Täter“, oder „ein arabisch aussehender Täter wird gesucht“.
Wir wissen doch, dass Kriminaldelikte, die mit Geld zu tun haben, auch immer mit der sozialen Herkunft zu tun haben. Bei Deutschen gibt es diese Probleme genauso wie bei Migranten.


Hier findet sich das gesamte (viel längere) Interview
Nic

Fotoquelle


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