Die Mahayana-Sutras beschreiben die letztendliche Bedeutung vom Standpunkt des erwachten Geisteszustandes aus. Daher sind viele dieser Sutras metaphysisch und einige Aspekte ihrer Darstellungen sind symbolisch zu sehen bzw. nur in einem Zustand der tiefen Versenkung zu verstehen. Ähnliches gilt für die Tantras, die visionäre Schriften sind, die Buddha – weniger als historische Person, sondern als erleuchteter Zustand – gelehrt hat und die auch die Letztendlichkeit der Natur des Geistes und seine spontanen Manifestationen darlegen. Da diese Schriften für Menschen, die auf die Dinglichkeit der Welt fixiert sind, verwirrend erscheinen mag, braucht es für das Verständnis dieser Schriften öfters auch eine Auslegung durch Personen, die diese Zustände in tiefer Meditation erfahren haben.
Im Sutra-Fahrzeug wird die Entwicklung zur Buddhaschaft in fünf Pfaden und zehn Stufen beschrieben. Um diese Entwicklung zu durchlaufen, benötigt man mit dem Sutra-Ansatz eine lange Zeitspanne, in manchen Schriften wird von drei endlosen Zeitaltern gesprochen. Dabei wird der relative und letztendliche Erleuchtungsgeist als Ursache der Entwicklung gesehen und das Erkennen der wahren Bestehensweise der Phänomene – Leersein von Eigennatur – allmählich erfahren.
Der Ansatz des Tantrayana umfasst denselben Durchlauf, jedoch ist dies in einer einzigen Meditationssitzung enthalten, in der die tantrischen Methoden – die geschickten Mittel – praktiziert werden. Der Stufenweg des Sutrayana ist in einer einzigen Sitzung des Vajrayana enthalten, wenn auch nicht immer in derselben Reihenfolge.
Fünf Pfade als Entwicklungsweg
Diese sind der Pfad der Ansammlung (tib., theg chen tshogs lam), der Pfad der Verbindung (tib., theg chen sbyor lam), der Pfad des Sehens (tib., theg chen mthong lam), der Pfad der Meditation (tib., theg chen sgom lam) und der Pfad des Nicht-mehr-Lernens (tib., theg chen mi slob lam). Betrachten wir nun einmal die fünf Pfade im Vergleich von Sutra und Tantra.
Pfad der Ansammlung
Der erste Pfad der Ansammlung besteht darin, konstruktives Potential – Verdienst genannt – anzusammeln. Dies geschieht indem man den Drei Juwelen Gaben darbringt und sich auch in den anderen Paramitas bei den fühlenden Wesen übt. Der Fokus liegt dabei auf der Zuflucht zu den Drei Juwelen und den fühlenden Wesen. Indem man auf diese Weise immer mehr heilsames Potential ansammelt, entwickelt man einen größeren Freiraum und schreitet so auf diesem Pfad voran.
Wie jede Praxis im Vajrayana beginnt man hier mit der Zuflucht und dem Hervorbringen der höchsten Geisteshaltung – Bodhicitta. Zusätzlich folgt dann oft noch eine Praxis der Sieben Zweige zur Ansammlung von Verdienst. Dadurch wird der Pfad der Ansammlung im Vajrayana meditiert.
Pfad der Verbindung
Der Pfad der Verbindung besteht aus vier Abschnitten: 1) Wärme (tib. drod); 2) Gipfel (tib., rtse mo); 3) Geduld (tib., bzod pa); und 4) höchste (weltliche) Dharma (tib., chos mchog). Diese vier Entwicklungsstufen werden auch als „vier Aspekte der Ermittlung“ bezeichnet.
Das erste Anzeichen für einen Erfolg in der meditativen Praxis wird „Wärme“ genannt und beschreibt eine Annäherung wie bei einem Feuer, wodurch man seine Wärme spürt. Damit ist eine erste Annäherung zur Einsicht gemeint, die später dann verwirklicht wird. Es ist ein Annähern an die flammengleiche Weisheit des Pfades der Einsicht, indem man Konzentration gleichzeitig mit dem unterscheidenden Erkennen besitzt. Die groben Störgefühle werden durch die Wärme aufgelöst.
Voller Ausdauer praktiziert man im Vajrayana die verschiedenen Elemente der Phasen der Visualisation und deren Auflösung. Die Visualisationspraxis, also das Hervorbringen von Meditationsgottheit und Mandala, hat die Aufgabe, die meditative Konzentration zu fördern, die geistige Ruhe zu vertiefen und die Störgefühle und falschen Konzepte von Identität im Geistesstrom zu beseitigen. Dies entspricht dem Pfad der Verbindung.
Pfad des Sehens
Der Pfad des Sehens währt 16 Bewusstseinsmomente (tib., mthong lam skad cig bcu drug) lang, die die Vier Edlen Wahrheiten umfassen. Dieser Abschnitt ist auch das Betreten der ersten Bodhisattva-Stufe „Vollkommene Freude“ und man entwickelt die direkte Einsicht in das Leersein der nichtbegrifflichen Weisheit. Dabei werden die sieben Erleuchtungsglieder Achtsamkeit, Eifer, Freude, körperliche und geistige Biegsamkeit, Sammlung und Gleichmut entwickelt. Auf diese Weise gelangt man auf die erste Bodhisattva-Stufe und praktiziert die Paramita der vollkommenen Großzügigkeit. Ein Bodhisattva kann auf dieser Stufe als Herrscher über diese Welt wiedergeboren werden.
Im Vajrayana beginnt die Hervorbringung von Meditationsgottheit und Mandala mit einem Leerheits-Mantra, das manchmal in drei bis vier Aspekte aufgeteilt werden kann. Dabei lässt man den Geist im ungekünstelten Gewahrsein ruhen und realisiert das Leersein aller Phänomene. Man schafft dadurch die Grundlage für die Einsicht in das Leersein der nichtbegrifflichen Weisheit.
Pfad der Meditation
Am Ende wird der unerschütterliche Meditationszustand – die varjagleiche Versenkung – erlangt, wodurch man von den subtilsten Verschleierungen befreit ist.
Im Vajrayana visualisiert man nach der Auflösung der gewöhnlichen Erscheinungen in den Zustand des Leerseins den Aufbau von Mandala und Gottheit, was gewöhnlich durch eine Keimsilbe erfolgt. Von dieser strahlt Licht aus und bringt den Buddhas und Bodhisattvas Gaben dar, kehr zurück und strahlt wieder aus zum Nutzen der Wesen der sechs Bereiche. Danach erfolgt die Selbstverwandlung in die Meditationsgottheit. Auf diese Weise wird die Anhaftung an den gewöhnlichen Körper beseitigt. Durch die drei Keimsilben OM, AH und HUM an den drei Stellen geht vom Verpflichtungswesen – das man selbst ist – Licht aus und lädt die Wesen uranfänglicher Weisheit – das erleuchtete Grundgewahrsein – ein, diese werden untrennbar. Da man sich nun als erwachtes Wesen und die Welt als reines Buddha-Land versteht, ist die Grundlage für die 10. Bodhisattva-Stufe gegeben. Somit ist der gesamte Pfad der Meditation in diesem Abschnitt der Hervorbringung (tib., skye rim) enthalten.
Dann strahlt wiederum Licht aus und lädt die Ermächtigungswesen in Form der fünf Buddhas Yab-Yum ein. Diese gewähren die Ermächtigung, sie verschmelzen und werden zum Herrscher der Buddha-Familie über dem Scheitel. Dies entspricht dem Ende der 10. Stufe und der vajra-gleichen Versenkung.
Pfad des Nicht-mehr-Lernens
Im Vajrayana kommt nach der Ermächtigung die Stufe der Rezitation des Mantras. Die erste Stufe ist die der Annäherung, wo man sich selbst nochmals mittels Visualisation und Rezitation als Meditationsgottheit – als erleuchtetes Wesen – erfährt. Die zweite Phase der Meditation ist die der Vollendung. Dabei strahlt Licht zu den Buddhas und Bodhisattvas der zehn Richtungen aus, bringt Gaben dar und empfängt ihren Segen. Wiederum strahlt Licht aus und reinigt die Verschleierungen der Wesen der sechs Bereiche und versetzt sie in den Zustand der vollkommenen Buddhaschaft. Dies entspricht dem Erscheinen eines Buddhas nach dem Erwachen und das Bewirken des Wohls der Wesen. In diesem Kontext werden auch die vier Buddha-Aktivitäten des Befriedens, Vermehrens, Magnetisierens und kraftvollen Befreiens ausgeführt.
Nach der Rezitation und dem Ausführen der Aktivitäten löst sich Welt und Inhalt, d.h. Mandala und Meditationsgottheit stufenweise auf. Gewöhnlich erfolgt dies in drei Stufen. Dies entspricht dem Auflösen von Nirmanakaya in Sambhogakaya und weiter in den Dharmakaya. Anschließend erscheint man aus diesem Zustand des leeren Verweilens wiederum als Meditationsgottheit in Aktivitätsgestalt und widmet sich mit dieser Sicht und diesem Verständnis dem Wohl der Wesen.
Während im Ansatz des Sutrayana diese Abschnitte stufenweise und langsam durchlaufen werden, wird im Vajrayana der gesamte Prozess in einer Sitzung verinnerlicht. Bei richtiger Anwendung, d.h. durch Ermächtigung, Übertragung und aufzeigende Erklärungen, kann so Buddhaschaft in einem einzigen Leben verwirklicht werden.
Gestützt auf die Lehren der Erleuchteten und Weisen, zusammengefasst vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2017). Möge es von Nutzen sein und die Praktizierenden bei der Praxis inspirieren! SARWA MANGALAM.
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