–> Susan – Kapitel 1 <–
Anmerkung: erstmals veröffentlicht wurde “Susan” von mir am 03.08.2009 – eine kleine Ewigkeit…
Kapitel 2
Manche Ereignisse behält man so getreu im Kopf, dass man nur kurz daran denken muß und jede Sekunde ist wieder da. Jedes noch so winzige Detail dringt an die Oberfläche und man durchlebt das Geschehen noch einmal. So ergeht es mir jedes Mal, wenn ich etwas habe, dass in den Keller gebracht werden muß.
Dann sehe ich den Sonnenstrahl durch das Fenster fallen und höre die tapsenden Schritte meiner Tochter, wie sie versucht – noch nicht einmal ein ganzes Jahr alt – ihren Eltern auf Schritt und Tritt zu folgen. Ich gebe mir Mühe, sie im Auge zu haben, damit sie sich auch nicht verletzt. Zu oft stolpert sie über ihre winzigen Füße und sitzt dann plötzlich ungewollt auf ihrem Babypopo.
An diesem Tag achte ich nicht so sehr auf sie.
Ist doch die Stimmung zwischen Andrew und mir, wieder einmal, auf dem Tiefpunkt. Schweigen herrscht zwischen uns und ich überlege, was zu tun sei, um die Sonne auch wieder in unsere kleine Familie zu lassen. Er hat – endlich und nach langem Drängen – beschlossen, die kaputten Scheiben unseres Schrankes in den Keller zu bringen. Sie stehen wartend in dem kleinen Flur, der an unsere Wohnungstür grenzt. Ich versuche, noch einmal mit ihm zu reden, zu bereinigen, was sich da zwischen uns drängt. Er geht an mir vorbei, zieht sich seine Schuhe an und ignoriert gekonnt meine Versöhnungsversuche. Warum lasse ich mich immer wieder darauf ein?
Ich sollte ihn stehen lassen, ausschmollen und von allein zur Vernunft kommen lassen. Mich um die Kleine kümmern. Sie liebt mich, bedingungslos. Wo ist sie? Seit sie laufen kann, ist es schwer, sie im Auge zu behalten. Kaum habe ich an sie gedacht, kommt sie um die Ecke getapst, ein Strahlen auf den Lippen, froh uns gefunden zu haben und stolz, ihren Eltern überallhin folgen zu können.
Da werde ich abgelenkt von einer Bemerkung, die er beim Schuhe anziehen fallen lässt. Wie war das grad? Ich habe nicht aufgepasst und das wird sich später wieder einmal rächen. Frage ich ihn, was er gesagt hat? Sicher auch falsch. Er würde ungehalten und enttäuscht sein, dass ich ihm nicht meine ganze Aufmerksamkeit geschenkt habe.
Charlyn drängelt sich an mir vorbei, niedlich anzusehen in ihrem geblümten Kleidchen, kurze, hellbraune Haare wachsen wild auf ihrem Kopf. Sie hat scheinbar beschlossen, ihren Papa zu begleiten.
Mit meinen Gedanken bei der Frage, wie ich auf ihn reagieren soll, gehe ich einen Schritt zurück, um sie vorbei zu lassen. Sehe auf sie herunter. Und was ich sehe in diesen Sekunden lässt mein Herz erstarren: Freudestrahlend läuft sie auf ihn zu, beide Ärmchen weit ausgebreitet, hofft, er fängt sie auf. Doch, ihre eigenen Füßchen werden ihr zum Verhängnis. Stolpernd versucht sie Halt zu finden.
Bevor einer von uns reagieren kann, beugt sich ihr rechter Arm hervor. Suchend. Findend. Ihr kleine Hand versucht sich an dem erstbesten in ihrer Nähe festzuhalten. Verharrt kurz auf der abgebrochenen Ecke der kaputten Scheibe um dann in Zeitlupentempo daran herunterzurutschen.
Stille. Absolute Stille. Sicher nur der Bruchteil einer Sekunde und doch so schrecklich lange. Dann erst ein leises Wimmern, das schnell lauter und immer lauter wird. Dieser Schrei geht mir durch und durch, spüre Charlyns Schmerz als meinen eigenen. Ich sehe das Blut, dass ihren Körper verlässt. Wo kommt das her? Was soll ich tun? Ich stehe wie erstarrt. Doch ihr Papa nimmt sie in die Arme, presst seine Hand auf ihren Arm, läuft so schnell er kann Richtung Bad, ruft mir zu, ich solle ihm folgen. Warum nur? Was ist passiert? Und wieso sind überall Blutstropfen, nein eher kleine Blutpfützen?
Er ruft mir zu, ich solle das Wasser aufdrehen, wir müssen versuchen, die Wunde zu reinigen und er bräuchte Verbandszeug. Schnell. Automatisch reagiere ich. Versuche nicht auf mein schreiendes Kind zu achten, denn ich merke, dass ich sonst nicht handeln kann. Vielleicht sogar mitschreie. Ich bekomme das Päckchen mit dem Verband kaum geöffnet, so sehr zittern meine Hände. Dann muß ich doch hinschauen. Blutüberstörmt ist ihr Arm. Er wollte ihn doch auswaschen. Hat er es nicht sogar getan? Wieso ist dann überall Blut? Ich soll sie festhalten, damit er sie verbinden kann. In diesem Moment bin ich dankbar und froh, dass er Zivildienst auf einem Rettungswagen gemacht hat und dort oft mit zufassen musste. Er weiß, was zu tun ist und ich kann mich auf ihn verlassen.
Ich versuche, sie festzuhalten, während er die Notversorgung macht. Endlich ist das Schwierigste geschafft. Er nimmt sie mir wieder ab. Sagt, ich solle mich anziehen und sehen, ob unsere Nachbarn da sind. Oh ja. Wie sollen wir nur ins Krankenhaus kommen? Einen Krankenwagen zu rufen könnte zu lange dauern und wir haben nur den zweisitzigen Transporter von Arbeit vor der Tür stehen. Nervös stehe ich kurze Zeit später angezogen vor der Tür nebenan und bete, hoffe, dass jemand zu Hause ist und Zeit für uns hat. Doch nichts rührt sich. Die Tür bleibt verschlossen und nichts außer Schweigen dringt aus der Wohnung an mein Ohr.
Wir sehen uns kurz an und wissen, dass wir es tun werden. Mittlerweile ist Charlyn in eine Decke gehüllt und wir fliegen die Treppenstufen hinunter und in das Auto. Auf der Fahrt halte ich sie auf meinem Schoß. Sie weint und weint. Ist ganz blaß. Ihr kleiner Körper zittert. In mir ist nur Angst, eine tiefe, riesengroße Angst.
Unbehelligt erreichen wir das Krankenhaus. Sind dankbar, dass wir mit dem Privatauto bis zur Rettungsstelle fahren dürfen. Der Wagen muß nur so schnell wie möglich wieder vom Gelände herunter. All das bekomme ich nur am Rande mit. Ich bin eher erstaunt, als sich plötzlich meine Tür öffnet und wir mit unserem Bündel einen Arzt suchen können.
Schnell erkennt man, dass es sich um einen Notfall handelt und wenige Minuten später sitzen wir in einem Raum und warten auf den Arzt. Als dieser den Raum betritt, berichtet Andrew mit kurzen Worten, was passiert ist. Meine Kehle ist trocken, ich bekomme kein Wort über die Lippen und auch die Fragen des Mannes dringen kaum an mein Ohr. Ich wünschte, nicht ich würde hier sitzen und es wäre nicht mein Kind, das da so leblos in meinem Arm liegt.
Vorsichtig nimmt der Arzt die Hand meiner Tochter und beginnt, den Verband zu lösen. Ein Stöhnen entfährt seiner Kehle, als er die Wunde sieht. Was hat das zu bedeuten? Es wird doch nicht schlimm sein. Er soll ein Pflaster holen und gut ist. Doch dann senkt sich auch mein Blick auf den kleinen Arm und was ich sehe, lässt meinen Körper zu Eis erstarren: Blut, aus einer Wunde, die sich vom Daumen bis zur Hälfte des Unterarmes zieht, überall Blut, das durch einen tiefen Schnitt herausquillt.
In meinen Gedanken überlege ich, dass es genau die Stelle ist, über die ich auch schon oft nachgedacht habe. Allerdings immer mit dem Wissen: der Schnitt muß quer verlaufen, damit es schneller und sicherer ist. Nicht längs, wie ich ihn nun vor mir sehe.
Mir laufen die Tränen über das Gesicht, mein Körper zittert. Ich hebe meinen Kopf, versuche in den Augen des Arztes zu lesen, doch er schaut mich nicht an. Warum sagt er nicht, was los ist? Dann sehe ich mir den Raum genauer an, versuche auf andere Gedanken zu kommen. Plötzlich geht jemand an der offenen Tür vorbei. Bleibt stehen, kehrt zurück. Ich erkenne ein Sanitäter durch meinen Tränenschleier.
Er überblickt kurz die Situation ist auch schon wieder verschwunden. Machen wir so einen furchtbaren Eindruck? Kann er nicht kommen und meiner Tochter helfen, wenn es der Arzt schon nicht kann. Gerade hat er so etwas gesagt, wie er könne nicht klammern, die Wunde sei zu tief und müsste operativ gereinigt und verschlossen werden. Was bedeutet das? Ich höre die Worte, doch ich verstehe sie nicht. Will sie nicht verstehen. Ich will nach Hause. Mein Kind nehmen und gehen. Mir einreden, dass es ihr gut geht.
Da, plötzlich ist der Sanitäter wieder da. Er betritt den Raum. Schaut erst meiner Tochter und dann mir in die Augen. Diese Augen beruhigen mich mehr als tausend Worte des Arztes. Er hat einen Plüschhasen in der Hand. Hält ihn der Kleinen hin, die ihn mit einem Lächeln – sie hat gelächelt – an sich drückt. Er sagt, während er mich anschaut: „Diesen Hasen hat man bei mir abgegeben und ich soll ihn weitergeben, an jemanden, der ihn zum Trost und Schutz braucht. Er wird auf Dich aufpassen! Hab keine Angst!“
Wie aus Trance beginne ich zu erwachen. Der Sanitäter ist weg und ich habe mich nicht einmal bei ihm bedankt. Existierte er wirklich? Aber ja, der Hase schlummert im Arm meiner Süßen. Andrew hat sich verabschiedet, er muß das Auto ja wegfahren. Und ich? Ich gehe neben einer Trage auf dem mein verletztes Kind liegt und versuche zu begreifen, dass wir auf dem Weg zu einer Operation sind. Jetzt sofort. Wir müssen nur auf den Anästhesisten warten. Wird er wissen, was zu tun ist? Hat er schon jemals Kinder betreut und in den Schlaf geschickt? Sie ist noch so klein, so zart und zerbrechlich. Wird die Dosis die Richtige sein, die er vorgesehen hat? Kann ich ihm mein Kind anvertrauen? Wo bleibt er eigentlich?
Dann stehen wir plötzlich in einem Krankenzimmer. Nur ein einzelnes Kinderbett mit hässlichen Gitterstäben steht darin und in diesem Bett liegt mein Kind. Schläfrig und ermattet. Ich kann nichts tun, als ihre unverletzte Hand halten und uns einzureden, dass alles gut wird. Wieso kommt niemand? Es müssen Stunden vergangen sein, bis sich die Krankenschwester zu uns verirrt um mir zu sagen, dass ich nach Hause gehen soll, ich könne nicht über Nacht bleiben, weil sie kein Bett für mich hat. Ich glaube zu träumen. Sie verlangt wirklich, ich solle gehen? Jetzt? Niemals. Entschlossen erkläre ich ihr, dass ich bleiben werde. Notfalls auf dem Stuhl oder der Erde meine Nacht verbringe, aber sicher nicht nach Hause gehe. Eigenartigerweise nimmt sie meine Worte gelassen auf und verlässt den Raum.
Worauf warten sie noch? Warum passiert nichts? Endlich öffnet sich erneut die Tür. Langsam drehe ich mich um, wische meine Tränen aus dem Gesicht um zu erkennen, wer den Raum betreten hat. „Das seit also wirklich ihr!“ Ein junger Mann steht in der Tür, der mir langsam bekannt vorkommt. Er kommt auf mich zu und da, langsam, kommt die Erinnerung in mir. Das ist mein Nachbar, an dessen Tür ich vor nicht allzu langer Zeit gestanden habe und hoffte, er würde uns ins Krankenhaus fahren können. Was machte er hier? Und warum war er so eigenartig gekleidet? Anscheinend stehen mir diese Fragen ins Gesicht geschrieben, denn er erklärt mir, dass er mein Kind in den Schlaf bringen wird. Bei der OP die ganze Zeit an ihrem Kopf sitzen und auf sie achten wird. Wie ein Engel erscheint er mir. In mir breitet sich eine beruhigende Ruhe aus und ich weiß, dass ich die Operation nicht mehr fürchten brauch. Dieser Mann wird mein Kind nicht sterben lassen. Er wird sie mir wiederbringen.
Nicht allzu lange danach, stehe ich allein vor dem OP-Saal und warte, dass die halbe Stunde vergeht, die man mir angekündigt hat. Gerne wäre ich an Charlyns Seite, würde gerne für sie alles durchstehen, doch ich kann nur warten. Allein mit mir und meinen Sorgen und Ängsten. Schweiß rinnt meinen Körper entlang, obwohl mir kalt ist. Kurz habe ich mit Andrew telefoniert, um Bescheid zu geben, wie der Stand der Dinge ist: morgen schon können wir wahrscheinlich das Krankenhaus verlassen. Falls, ja falls die Operation erfolgreich ist. Mein Baby, sie liegt hinter dieser Tür und ist doch unerreichbar für mich. Nur meine Gedanken, meine Liebe kann ich ihr senden, beten, dass alles gut wird.
Dann öffnet sich die Tür und die Trage auf der mein schlafendes Kind liegt erscheint im Gang. Fragend sehe ich in die Gesichter der Ärzte und das Lächeln auf ihren Lippen sagt mehr als tausend Worte. Dankbar und glücklich bedanke ich mich bei meinem Nachbarn mit einem Kuss, auch wenn er den lieber von Männern mag. In diesem Moment ist uns das beiden egal.
Als wir in „unserem“ Zimmer ankommen wartet noch eine besondere Überraschung auf mich: die Krankenschwester hat doch noch ein Bett besorgt und so schlafe ich irgendwann, die gesunde Hand meiner Tochter in meiner ruhend, ein.
Am nächsten Tag dürfen wir wirklich das Krankenhaus verlassen und außer einem riesigen Verband an ihrem kleinem Arm scheint die Kleine alles gut verarbeitet zu haben. Auch mir erscheinen die letzten 24 Stunden unwirklich, als hätte ich sie in einem Traum erlebt. Doch ihre Narbe ist wahr und wird mich und sie ein Leben lang an diese Tage erinnern.
–> Fortsetzung folgt <–