Susan – Kapitel 1

Anmerkung:
“Susan” wurde in einer sehr schweren Zeit, als sich mir der Boden zu meinen Füßen öffnete und ich weder ein noch aus fand, geboren. Auch, als Stephan dann an meiner Seite war, hatte ich ab und an den Drang, die Geschichte weiter zu schreiben. Doch irgendwann setzte eine sehr, sehr lange Schaffenspause ein…
Schon eigenartig die Story nun nach 3 Jahren das erste Mal wieder zu lesen… Vielleicht… eines Tages…

Kapitel 1

Susan stand in einer schmerzfreien Minute am Fenster und schaute in den wolkenverhangenen Himmel. Es sollte Regen kommen in dieser wundervollen Sommernacht. Gerade heute Nacht, dachte sie.

Tief senkten sich die schweren Regenwolken, bereit, sich über die Stadt zu ergießen, die ausgebreitet vor ihr lag. Trotz ihrer Höhenangst liebte sie diesen Ausblick aus dem obersten Stockwerk des Mehrfamilienhauses, in dem sie seit kurzem wohnten. Das riesige, dreiteilige Fenster war eingebettet in einen erstaunlich großen Raum, der ihr Platz zum Atmen ließ, ihr die Illusion von Freiheit vermittelte, die sie manchmal so sehr brauchte.

Ursprünglich war es nur der Wunsch ihres Mannes, der sie damals diese Wohnung direkt unter dem Dach aussuchen ließ. Andrew wollte niemanden, der auf seinem Kopf herumtrampelte, wie er es nannte. Keine tappenden Kinderfüße die Tag und Nacht durch die Wohnung flitzten, keine Musik, die andere möglicherweise etwas zu laut aufgedreht hatten. Er träumte immer von einem eigenen Haus, sicher, weil er es als Kind nicht anders kannte, doch finanziell war daran in ihrer Ehe nicht zu denken.

Obwohl sie beide Anfang Dreißig waren, blieb zum Monatsende regelmäßig nichts übrig, dass angespart werden könnte. Einige Dinge, die sie besaßen, gehörten noch der Bank und war eine Sache, endlich, bezahlt, wartete bereits die Nächste darauf, bei ihnen einzuziehen.

Oft träumte Susan von einem Urlaub am Meer, so wie ihre jüngere Schwester Anne es jedes Jahr mit ihrer Familie erlebte. Wenn es sich ergab, fuhr Andrew mit ihr in den Winterurlaub. In pulverweißen, kalten Schnee. Sie haßte Kälte und Schnee, doch es war die einzigste Möglichkeit, dem Alltagstrott zu entfliehen. Und er liebte diese Zeit, erinnerte es ihn doch an seine Kindheit, ihre Wünsche mussten hinten anstehen.

Der Blick über die Dächer der anderen Häuser, jedes auf seine Weise alt und schön, ließen sie darüber nachdenken, wie groß diese Stadt war und wie viele verschiedenen Menschen in ihr lebten, ohne sich jemals zu begegnen. Konnte man eine Stadt, einen Ort lieben, fast wie ein anderes Lebewesen, einen anderen Menschen? Vielleicht, wenn niemand da war, der diese Liebe erwidert hätte? Verschenkte man sein Innerstes und sich selbst dann an Gegenstände, an Häuser und Straßen? Was waren das nur für Verwirrungen in ihrem Kopf? Überlegte sie gerade, ob ihr Mann sie liebte? Ob sie ihn liebte? Natürlich liebte Andrew sie. Auf seine Art. Susan zwang sich, die aufsteigenden Gedanken zu verstecken, wie so oft, seit ihrer Eheschließung vor einigen Jahren. Sie hatte dieses Leben freiwillig gewählt und es wird einen Weg geben glücklich zu werden, sie musste ihn nur finden.

Kurz dachte sie über den Mann an ihrer Seite – ihren Mann – nach. Groß und schlank, mit langsam schütter werdendem Haar, sah sie ihn vor ihrem inneren Auge. Von Liebe hatte er in all den Jahren zwei Mal gesprochen, und dann auch nur nach einem explosiven Höhepunkt. Konnte man in dieser Situation gemachte Liebesgeständnisse überhaupt zählen? Susan musste es, denn sonst würde sie es noch nie gehört haben. Andrew war in letzter Zeit sehr angespannt, die Arbeit auf dem Bau ließ ihn oft erst sehr spät nach Hause kommen, meist fiel er dann, nach einer kurzen Dusche, total fertig ins Bett. Sie hätte Abends gerne noch mit ihm zusammen gesessen, an ihn gekuschelt über Gott und die Welt geplaudert. Zu lange und einsam waren ihre Tage. Nur ausgefüllt mit Warten und Hoffen. Doch verlangen würde sie es nicht von ihm: zu ungewiß war seine Reaktion auf ihre Bitte. Ihr unausgesprochenes Flehen in den Augen bemerkte er nicht oder übersah es. Susan wusste es nicht, wollte es nicht wissen, verbot sich die grübelnden Gedanken darüber – immer wieder.

Noch ließ der Regen auf sich warten und Susan war dankbar dafür. Wahrscheinlich würden sie bald unterwegs sein und dann mußte es schnell gehen, dann konnte der Regen sie ziemlich behindern. Sie fürchtete sich vor der bevorstehenden Fahrt. Andrew fuhr nicht sehr bedacht, wenn er unter Streß stand. Hoffentlich erreichten sie ihr Ziel ohne Unfall.

Als vor einer halben Stunde die ersten Wehen einsetzten, hatte sie Andrew noch einmal ins Bett geschickt, damit er noch einige Stunden schlafen konnte. Obwohl Susan noch nie ein Kind zur Welt gebracht hatte, sagte ihr Gefühl, dass noch genügend Zeit vor ihr lag. Und hörte sie im Verlauf der letzten Monate nicht immer wieder, dass es sicher Stunden dauern würde, bevor das Kind zur Welt kam?

Er konnte ihr im Moment nicht helfen, würde nur gereizt und launisch werden. Da war es angebrachter, er war ausgeschlafen, wenn sie ihn wirklich brauchte. Sie kannte ihn, trotz der vielen Jahre, immer noch nicht, konnte nicht abschätzen, wie er regieren würde. Er konnte liebevoll und zärtlich sein, doch auch unausgeglichen und verschwiegen. Oft erfuhr sie erst nach Tagen, was die Ursache für seine Gereiztheit war. Seine tiefsten Gedanken und Gefühle behielt er trotz allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten, für sich.

Das ihr Baby ein Nachtkind werden wird, vermutete sie schon länger. Schließlich ließ dieser kleine Wurm sie seit Anbeginn seines Entstehens Nachts selten schlafen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie bereit war, ihren müden Körper am Tage auszuruhen. Einfach mal ein, zwei Stunden zu schlafen. Den unerledigten Haushalt zu übersehen, nicht daran zu denken, dass Andrew ein warmes Essen erwartete, wenn er abends von der Arbeit kam. Oft verlangte das Kind kurz nach Mitternacht nach etwas zu essen und Susan saß Nacht für Nacht mit einer Schüssel Cornflakes eingekuschelt in ihrem Lieblingssessel. Sie genoß diese Stunden, Zeit, die ihr allein mit dem Baby und ihren Gedanken gehörten. Ihr Mann bemerkte nicht einmal, wenn sie nachts wieder einmal wach war und durch die Wohnung spazierte. Schließlich schlief sie nicht bei ihm mit im Hochbett. Die Leiter war ihr in letzter Zeit einfach zu unsicher geworden.

Leicht fröstelnd schlang Susan die Arme um ihren gewölbten Körper. Sie war nicht schlank wie ein Model, diese Zeit war schon lange vorüber, und doch hatte die Schwangerschaft sie schlanker werden lassen und nur der kugelrunde Bauch ließ erkennen, wer die verlorenen Pfunde sich genommen hatte. Wenn sie es recht bedachte, konnte sie dankbar sein, für die Schwangerschaft, die hinter ihr lag. Sie hatte keine Anwandlungen Saure Gurken mit Marmelade zu naschen oder Nachts unbedingt etwas zu sich zu nehmen, dass unter Garantie nicht im Haus war. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie daran dachte, zu was ihr Baby sie mitten im Winter gebracht hatte: Susan konnte damals an keinem Geschäft vorbeigehen, in dem es Eis zu kaufen gab. Egal, ob Schoko, Vanille oder gemischtes Eis, sobald sie welches erspähte, betrat sie das Geschäft, um sich, und vor allem dem Baby, welches zu kaufen. Eine Sucht, gegen die sie nicht ankam. Wie erstaunt die Leute sie auf der Straße angeschaut hatten: der Babybauch war noch winzigklein und gut eingepackt in eine dicke Winterjacke und sie lutschte vergnügt und zufrieden an einem Eis, während sie durch die Straßen spazierte. Und jetzt war bereits der Sommer in die Stadt gekommen, leider auch mit den ersten Sommergewittern.

Plötzlich spürte sie wieder, wie der Schmerz wie eine Welle in ihr hoch kroch, sich im Rücken ausbreitete und sich dann tiefer schlängelte, um in ihrem Unterleib zu explodieren. Wenn das die Vorwehen waren, wie schlimm würde es dann noch werden? Würde sie die nötige Kraft finden? Vor Schmerzen schreien oder eher wimmernd versuchen, die Wellen zu überstehen? Sich dagegen wehren, um schmerzstillende Mittel zu bitten, so, wie sie es sich fest vorgenommen hatte? Doch viele Frauen vor ihr hatten es schon geschafft und dieser Gedanke schenkte ihr die nötige Ruhe.

Sie fand sich zusammengekrümmt auf dem Sofa wieder, ohne zu wissen, wann und wie sie dort hingekommen war. Susan genoß es, dass der Schmerz langsam abebbte und sah auf die Uhr. 35 Minuten lagen zwischen den Attacken. Genug Zeit, um in Gedanken noch einmal durchzugehen, was sie benötigen würde für die Zeit, die vor ihr lag. Die Tasche stand seit Tagen gepackt an der Eingangstür, bereit für den großen Augenblick. Die nötigen Unterlagen für das Krankenhaus hatte sie separat gelegt, sie musste sie am schnellsten erreichen, genau wie den Mutterpaß. Alles andere würde sich auch so finden. Zur Not konnte sie ohne Nachthemd schlafen und das Baby brauchte sicher auch nicht in den ersten Minuten die Sachen, die sie gekauft hatten.

In ihren Ohren hörte sie die Hebamme gute Ratschläge verteilen an die werdenden Mütter im Vorbereitungskurs. Immer wieder gab ihnen die gute Frau die gleichen, gut gemeinten Worte mit auf den Weg: “Gleichmäßig atmen. Nicht zu früh ins Krankenhaus fahren, damit man Euch nicht wieder nach Hause schickt und ihr die Strecke nicht noch mal hinter Euch bringen müsst. Solltet Ihr während der Wehenphase erbrechen müssen, ab mit Euch zur Geburt! Das ist ein ernstes Anzeichen. Wenn das Fruchtwasser abgeht: liegen bleiben und den Notarzt rufen! Darauf achten, was die Hebamme sagt. Auf keinen Fall zu früh pressen, da das Kind sonst festhängen bleiben könnte.”

Sie hatte so viel Angst in sich. So vieles konnte schief gehen. In letzter Sekunde alles zerstören. Würde sie mit dem Schmerz umgehen können? Weiterleben, falls ihr dieses Kind auch nicht bleiben würde? Dieser, ach so wichtige, Teil von ihr?

Die letzten Monate rasten an ihr vorbei. So ähnlich stellte sie es sich vor, wenn man für immer einschläft: alle wichtigen und unwichtigen Dinge des Lebens ziehen vor den Augen dahin und man durchlebt Schmerz und Freude noch einmal.

Das schmerzliche Gefühl, nachdem sie erfuhr, dass auch die zweite Schwangerschaft nicht zum Ziel führen würde, weil das Kind wieder in ihrem Körper verstorben war. Sie konnte es fühlen. Tief in sich. Wahrscheinlich würde es sie immer begleiten. Und es war auch jetzt wieder da. Greifbar fast. Diese tiefe Angst. Angst um das Wesen in ihrem Bauch, das immer noch nicht verraten hatte, ob es lieber ein Mädchen oder ein Junge werden würde. Obwohl ihr Mann Andrew seit dem Tag der Zeugung der festen Überzeugung war, dass es ein Mädchen ist. Susan war es egal. Viele sagten so nebenbei: “Hauptsache gesund.” Wenn sie wüssten, wie sehr sie für diesen Satz lebte. Nichts anderes war wichtig!

Den Spaß, den der Vorbereitungskurs ihr brachte. Warum hatte sie ihn eigentlich allein besucht? Die anderen Väter waren doch damals auch anwesend. Erschreckend stellte sie fest, dass es sie kaum berührte, zu oft war sie ohne Andrew bei wichtigen und unwichtigen Entscheidungen und Begegnungen gewesen. Es war eine wunderschöne Erinnerung: all die anderen werdenden Eltern um sie herum. Alle mit den gleichen Erwartungen und Ängsten. Es gab tränenreiche Augenblicke und Momente, in denen sie alle zusammen saßen und sich vor Lachen ihre gewölbten Bäuche hielten. 

Da, wieder diese Schmerzen. War die Zeit schon um? Wie unter einem Schleier, der sich auf ihre Augen gelegt hatte, versuchte sie, die Uhr zu erkennen. 20 Minuten seit der letzten Welle. Es scheint los zu gehen. Sollte sie Andrew schon Bescheid geben? Ach nein, er haßte es, warten zu müssen. Und sie konnte es nicht gebrauchen, dass er jetzt schlechte Laune verbreitete. Sie brauchte seine Unterstützung und keine unausgesprochenen Vorwürfe.

Wie oft hatte sie sich im letzten Jahr gefragt, ob er überhaupt dieses Kind wollte. Nie sprach er offen mit ihr über diese und andere Dinge. Er hatte versucht, sie auf seine Art zu trösten, nach dem zweiten Abbruch. Doch, wirklich helfen konnte er ihr nicht. Diesen Schmerz, diesen Verlust, musste sie alleine verkraften. Für ihn war das nicht nachvollziehbar. Er war ein Mensch, dem es schwer viel, seine Gefühle, Ängste und Hoffnungen anderen zu offenbaren. Gerade das hatte sie damals so an ihm gereizt. Sie wollte diesen Schutzwall durchbrechen und zu seinem Inneren vordringen. Sie war sich damals sicher, dass es möglich war. Das er sich im Lauf der Zeit öffnete und seine Liebe zu ihr, sich und ihr eingestand. Doch er hatte es nicht geschafft, genauso wenig, wie sich in sie hereinzuversetzen. In ihre Trauer um die Kinder, die sie verloren hatte.

Danach die Genuntersuchung, ob sie überhaupt jemals ein Kind zusammen haben könnten. Das Warten auf das Ergebnis und die unausgesprochene Frage: Was, wenn wir es nicht können? Werden wir zusammenbleiben? Er wusste, wie viel es ihr bedeutete, ein Kind zu haben. Und sie war sich in dieser Zeit nicht sicher, ob die Liebe, ihre Liebe – noch – ausreichen würde, um bei ihm zu bleiben. Dann das Ergebnis: es sollte nichts im Wege stehen, sie sollten es weiter versuchen. Doch wie lange? Den Ärzten war unerklärlich, warum Susan die Kinder verlor. Vielleicht war die Zeit einfach noch nicht da? 

Mit Hilfe ihrer Ärztin hatte es dann ja auch geklappt. Doch was für ein langer Weg es war! Da ihr Körper sich plötzlich weigerte, Eizellen zu produzieren, ließ sie eine Hormontherapie über sich ergehen: alle 12 Stunden hatte die Ärztin Susan eine Spritze gegeben und nachgesehen, ob sich evtl. ein ganz winzigkleines Ei auf den Weg machte. Viele Wochen blieb das erhoffte Ergebnis aus. Bis plötzlich: „Susan, Sie sollten heute unbedingt einmal Lust auf ihren Mann haben!“ Als sie diesen Satz zum ersten Mal hörte, konnte sie nur darüber schmunzeln, ahnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie ihn bald hassen würde.

Nach einigen Wochen fanden sie beide die Situation fast unerträglich. Die Liebe und Lust aufeinander hatte nachgelassen, warum auch immer, und beiden war nicht nach dem erforderlichen Sex. Doch der Wunsch nach einem, diesem Kind, war so stark in ihr, dass sie ihn immer wieder drängte. Und schließlich die Belohnung für ihren Dickkopf erhielt: „Super! Letzte Nacht hat es geklappt! Jetzt müssen wir nur noch abwarten, ob sich das befruchtete Ei auch wohl fühlt und bleiben will!“ Die Tasche volle Medikamente, einer Freistellung für den Chef und mit von Freudentränen nassem Gesicht kam sie zu Hause an. Andrew hielt sich – wie so oft – zurück mit seiner Freude. Er betrachte die Angelegenheit eher kühl: „Na, schaun wir mal. Zumindest war die Arbeit der letzten Wochen nicht umsonst.“ Die Arbeit? Sie schluckte, ihre Freude war mit einem Schlag wie weggeblasen, zumindest so lange er in der Nähe war. Saß sie in den nächsten Tagen und Wochen allein zu Haus und strich sich liebevoll über ihren Bauch wusste sie, dass es noch viele Wochen mehr wert gewesen wäre. Dieses Kind in ihr. Gezeugt in der Nacht vom Heiligen Nikolaus.

Ganz in ihren Erinnerungen versunken spürte sie plötzlich eine Welle Übelkeit in sich aufsteigen und der Weg bis ins Bad schien unendlich weit zu sein. Erschöpft sah sie nach einigen Minuten in den Spiegel und erschrak über ihr Aussehen. Susan versuchte sich etwas zurecht zu machen und ertrug auf dem Badezimmerboden die nächste Wehe. Die Schmerzen schienen intensiver zu werden und länger anzuhalten. Sie konnte kaum noch unterscheiden, welche Körperteile eigentlich weh taten. Ihr gesamter Körper schien zu zerbrechen, nicht bei sich behalten zu wollen, was in ihm war. Ihr wurde bewusst, dass die Zeit ran war. Andrew musste sie ins Krankenhaus fahren, jetzt sofort. Das sie sich übergeben hatte, sollte sicher ein Zeichen sein. Langsam quälend erhob sie sich und schleppte sich ins Schlafzimmer. Warum nur hatten sie bei ihrem Einzug ein Hochbett gebaut? Warum war er nie zufrieden mit dem, was sie gerade hatten? Immer, wenn sie fand, dass es gemütlich und schön wäre, begann er etwas neues zu bauen. Würde er sie dort oben hören oder musste sie versuchen die Leiter zu erklimmen? Leise versuchte sie, ihn zu wecken. Warum versuchte sie eigentlich, ihn leise und vorsichtig zu wecken? Er musste sowieso wach werden. Schnell. Die Schmerzen ließen eine Gleichgültigkeit einer evtl. schlechten Laune seinerseits in ihr wachsen. Er sollte auch seinen Beitrag leisten. Und der war sowieso schon gering klein. 

Endlich kam eine Reaktion aus dem Bett: „Was ist los? Ist es endlich so weit? In welchen Abständen kommen denn Deine Wehen?“ Susan unterdrückte ein Stöhnen. Wie egal das im Moment war! Er sollte aufstehen und sie ins Krankenhaus fahren! Es ging hier nicht um irgendwelche Zeiten sondern nur darum, dass das Kind zur Welt kommen wollte. 

Unendlich langsam, wie es ihr erschien, erwachte er endgültig und kam aus dem Bett. Susan hatte den Eindruck, dass er sich nur im Schneckentempo bewegte. Die Schmerzen hatten nachgelassen, waren jedoch jetzt dauerhaft zu spüren. Sie konnte nicht beurteilen, was unangenehmer war. Minutenlang saß sie bereit zur Abfahrt in ihrem Sessel, bis Andrew mit der Tasche in der Hand bereit war, aufzubrechen. 

Der Regen hatte mittlerweile eingesetzt. Ein nasser Film lag auf der Straße und in Susan kroch die Angst vor der bevorstehenden Fahrt wieder hoch. Sie hatte sich einige Krankenhäuser angesehen. Das, welches sie erwählt hatte für diesen wichtigen Augenblick, war ziemlich weit entfernt. Doch sie dachte an die vorhandenen Kreißsäle, die Kindernotstation, den Operationsraum, der sich in unmittelbarer Nähe befand, an die freundlichen Schwestern und Hebammen vor Ort. Sie hatte sich damals sofort sicher und geborgen gefühlt und jetzt freute sie sich darauf, dorthin zu kommen in dem Bewusstsein, dass man sie und das Baby dort gut betreuen würde. Ihr beistehen, in dieser ungewissen, unbekannten Zeit, die vor ihr lag. 

Ganz in Gedanken versunken und immer wieder von Schmerzwellen durchzuckt, bemerkte Susan nichts von der Fahrt, bis sie plötzlich vor dem Krankenhaus standen und ihr klar wurde, dass es nun soweit war. 

Gemeinsam betraten sie die Station und nach einer ersten Untersuchung erfuhren sie, dass es sicher die ganze Nacht dauern könnte, bevor das Kind zur Welt kam. Die Hebamme überlegte, ob sie Susan noch einmal nach Hause schicken sollte. In ihr erwachte die Angst, noch einmal durch die regennasse Stadt zu fahren. Dass das Kind sich unterwegs seinen Weg in diese Welt bahnen würde. Doch da keine andere werdende Mama anwesend war, konnten sie bleiben.

In einer gemütlichen Ecke, in der ein Sofa und ein Sessel neben einem Tisch standen, versuchten sie gemeinsam die Zeit zu überbrücken. Wer sie dort hätte sitzen sehen können, hätte sicher überlegt, ob sie überhaupt gemeinsam zur Geburt hier waren: Susan gekrümmt vor den immer wiederkehrenden Schmerzen, Andrew vertieft in einen Artikel einer der vielen Zeitschriften, die er vorsorglich eingepackt hatte. Wäre er mit ihr in dem Kurs gewesen, hätte er jetzt gewusst, wie er ihr durch die mit Schmerzen ausgefüllte Zeit helfen könnte. In diesem Moment hätte sie ihn anschreien mögen, ihn anflehen, er solle sich – wie auch immer – um sie kümmern. Doch sie brachte kein Wort heraus. Wartete immer wieder ab, dass die Welle sie verließ um Kraft zu schöpfen, für die Nächste, die sicher wieder etwas stärker werden würde.

Dankbar nahm sie das Angebot der Hebamme an, sich in ein warmes Wannenbad zu legen. Es duftete nach Kräutern, die Susan jedoch nicht zu deuten schaffte. Und wieder saß er neben ihr, las und redete über Dinge, die sie zur Zeit nicht im Geringsten interessierten. Doch er schien es nicht zu bemerken. Sicher versuchte er so, sie abzulenken, doch dazu war der Schmerz zu stark.

Immer wieder krümmte sich ihr Körper zusammen. Sie hatte den Eindruck, dass es im Wasser zunahm von Minute zu Minute. Bis sie es nicht mehr aushielt, nur noch aus dem Wasser heraus wollte. 

Der Schmerz hatte sich plötzlich verändert. Verlagert in den untersten Teil ihres Unterleibes. Als ob das Kind ganz tief läge und versuchte seinen Weg zu finden. Der Verzweiflung nah, stellte sie fest, das keine Hebamme oder Schwester auf der Station war. Kaum schaffte sie es, sich bis zum Sofa zu bewegen. Andrew schleppte sie mehr, als sie ging.

Wie viel Zeit war eigentlich vergangen, seit die ersten Wehen ihren Körper durchrieselten? Ein Blick auf die Uhr an der Wand gab ihr die Antwort: 3 Stunden. Susan erschien es wie eine Ewigkeit. Konnte es möglich sein, dass die Uhr stehen geblieben war? Das die Zeit aufgehört hatte zu existieren? Die Umgebung begann, vor ihren Augen zu verschwimmen. Ein drückendes Gefühl in ihrem Kopf ließ Panik in ihr aufsteigen.

Andrew trat zu ihr und fragte, ob er etwas tun sollte. Endlich. Ja, er sollte Hilfe holen! Ihr Unterleib schien zu zerbersten. Sie hatte das Gefühl, als könnte sie den Drang, das Kind aus sich herauszupressen nicht länger zurückhalten. Konnte das möglich sein?

Dankbar sah sie ihren Mann an, der mit einer jungen Schwester zu ihr kam. Diese meinte jedoch lapidar, dass Susan ganz ruhig bleiben soll. „Alles ist in Ordnung. Sie sind doch noch nicht lange hier. Sicher dauert es noch ewig!“ Susan bemühte sich ruhig zu bleiben. Angesichts der Schmerzen und dem Wissen, dass nicht mehr viel Zeit war, viel es ihr schwer, gelassen zu bleiben und der Schwester die Möglichkeit zu lassen, ihren Job auszuführen. Anscheinend war die Natur jedoch stärker, denn nach einer kurzen Untersuchung flitzte die Schwester aufgeregt durch die Station auf der Suche nach einer Hebamme und einem Kinderarzt. 

Erstaunlich schnell fand sich Susan im Kreissaal wieder, Andrew an ihrer Seite. Sie klammerte sich an seiner Hand fest und bei jeder Schmerzwelle übertrug sie ihn auf ihn. Nur kurz dachte sie darüber nach, ob sie wohl genug Kraft hätte, ihm den Daumen zu brechen. Den Vorschlag der Schwester, er könnte doch mal nachsehen, das Köpfchen wäre schon da, verhinderte sie mit einem Aufschrei. Sie brauchte ihn jetzt an ihrer Seite, das Baby konnte er gleich betrachten. Er sollte neben ihr stehen und diesen schrecklichen Schmerz und die Vorfreude auf das Baby teilen, nicht die Situation analysieren. Sie bemühte sich, den Anweisungen der Hebamme zu folgen, was ihr unheimlich schwer fiel, weil alles Blut durch ihre Ohren zu rauschen schien. Ihr Körper zog sich zusammen, schien zu zerreißen und Susan schrie ihren Schmerz in dieser Nacht ungehemmt in den Raum. Ein Schmunzeln ging über die Gesichter der Anwesenden, als Susan erklärte, dass Andrew das nächste Kind zur Welt bringen würde – sie würde es sicher nicht noch einmal durchmachen. 

Dann, plötzlich und fast unerwartet, war es geschafft. Ein kurzer Blick vom Kinderarzt auf das Baby, das da zwischen ihren geöffneten Beinen lag: „Alles da, wo es hingehört. Herzlichen Glückwunsch zu ihrem Mädchen!“

Erschöpft ließ Susan sich zurücksinken und versuchte zu Atem zu kommen. Immer noch durchbrachen sich Schmerzenswellen den Weg durch ihren Körper. Kaum bemerkte sie, wie die Hebamme das Kind vermaß und Andrew Fotos schoß. Ein leises Wimmern war von dem Kind zu hören, sicher war das Blitzlicht unangenehm für die Kleine. Und zum ersten Mal verspürte sie den Drang, ihr Kind in den Arm zu nehmen und zu trösten, fest zu halten und ihm zu sagen, dass es keine Angst haben muß, keine Gefahr besteht. Doch sie musste sich noch gedulden. Wieder einmal konnte sie nur warten. 

Andrew erklärte ihr, dass er nun nach Hause fuhr, um Familie und Freunde, mit dem Telefon, aus dem Bett zu klingeln um allen von der Geburt zu berichten – war es wirklich halb zwei Uhr morgens? Wieder ließ er sie allein. Zu schnell.

Also doch: ein Nachtschwärmer ihr Baby, Susan lächelte bei diesem Gedanken. Die Schwester kam mit der Kleinen auf sie zu, hob die Decke, die auf ihrem Körper lag und legte das Kind auf ihren Bauch. Sofort beruhigte es sich und kuschelte sich an sie. Susan hob ihre Hände, um das winzige Menschlein vorsichtig zu berühren. Es war ein Teil von ihr. Durch sie entstanden. Es gab ein Band zwischen ihnen, das nur Mutter und Kind verbindet. 

Die Schwester verließ mit allen anderen den Raum und Susan hatte Zeit, sich zu sammeln und diese erste Zeit mit diesem Stück von ihr zu genießen. Ihre Tochter Charlyn. Sie fühlte sich wundervoll weich und zart an. Und war so klein. Vor kurzem kam sie ihr noch unendlich groß vor, unvorstellbar, dass Charlyn vor wenigen Minuten noch in ihr war und Susan sie nun – endlich – in den Armen halten konnte.

Eine unendliche Müdigkeit überfiel Susan und sie hatte Mühe, ihre Augen offen zu halten. Doch niemand war in der Nähe, der ihr das Baby abnehmen hätte können. Wenn sie jetzt einschlief würde Charlyn vielleicht herunterfallen, schließlich lagen sie beide ziemlich erhöht auf einer Art Tisch, aneinandergekuschelt unter der Decke. Die Kleine bewegte sich und es kam Susan so vor, als würde das Baby sich noch enger an den Bauch, der ihm so vertraut war, drängen.

Nach einiger Zeit im Dämmerzustand betrat jemand den Raum und fragte, ob Mutter und Kind bereit wären, auf die Station umzuziehen. Oh ja, sie waren bereit. Da der Weg sehr kurz war, konnte Susan ihr Kind nach kurzer Zeit in die Obhut einer lieb aussehenden Stationsschwester geben und selbst in einen erholsamen Schlaf sinken. 

Als sie am nächsten Morgen erwachte, suchten ihre Hände sofort den Weg zu ihrem Bauch um dort dem Baby Guten Morgen zu sagen. Wie so oft in letzter Zeit. Doch da war nichts mehr in ihr. Mit einem Erschrecken setzte sie sich auf und plötzlich war die Erinnerung an die letzte Nacht wieder da. Die Wehen, die Fahrt und die Geburt. Wo war ihr Kind?

Als hätte sie diese Frage laut gestellt, kam eine Schwester mit einem Babybett ins Zimmer und darin lag ihre Charlyn. Vorsichtig nahm sie die Kleine zu sich ins Bett und genoß den Anblick des schlafenden Babys. Saugte jede Regung, jeden Millimeter in sich auf. Lange lag sie still neben dem Kind und hielt Zwiesprache mit sich und der Kleinen. Endlich spürte sie, wie sich die Erleichterung Luft verschaffte und ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Sie legte eine Hand über das Baby, kuschelte sich an die Kleine und dann schliefen sie noch eine Weile, beide erschöpft von den Ereignissen der letzten Stunden…

Mama und Motte Baby 300x225 Susan   Kapitel 1

–> Fortsetzung folgt <–


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