Surfen und Denken

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Die Kulturrevolution durch das Internet ist in aller Munde. Alles hat sich geändert: Wie wir nach Informationen suchen, wie wir einkaufen, wie wir uns unsere Meinung bilden. Nicholas Carr konzentriert seinen Blickwinkel in dieser massiven gesellschaftlichen Veränderung auf die Persönlichkeit des online Nutzers. Ganz speziell: Wie denken wir, wenn wir im Netz sind. "Was macht mein Gehirn solange" (ein Untertitel des Buches). Wie verändert das Internet unser Denken?
Surfen und Denken - Rezension von Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin

Warum Autor und Verlag den eher kulturkritischen Frank Schirrmacher das Vorwort haben schreiben lassen? Soll damit der/m LeserIn der Tenor für ihre/seine Lektüre gewiesen werden? Jedenfalls verlässt man die Eingangsseiten erst mal etwas ratlos: Wir sind "gezwungen" zum Multi-Tasking, lesen wir? Niemand ist gezwungen. Das Internet vernebelt den kapitalistischen Grundwiderspruch? Schirrmacher bleibt den Beweis schuldig. Aber der Vorwortschreiber ist ja eh, was bei ihm pessimistisch klingt, von Irreversibilität der digitalen Revolution überzeugt und flüchtet sich danach nur noch in einen vagen Appell an das Fördern von "Kontemplation". Warum empfiehlt er nicht gleich: Immer mal den PC abschalten (was ja jeder vernünftiger Surfer eh tut)?
Surfen und Denken - Rezension von Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin


Carrs Veränderungen im Menschen, die er durch seine online-Nutzung wahrzunehmen glaubt, sollen ihm unbenommen bleiben. Wenn er nicht mehr die Fähigkeit hat, mit jeweils anderer spezifischer Wahrnehmung und Lesegeschwindigkeit einen schönen Roman zu lesen oder nach Informationen zu googeln, so tut er mir leid. Aber das ist nicht zwangsläufig so. So wie im vor-digitalen Zeitalter "vernünftige" Menschen vernünftig verschiedenes tun konnte: Mit dem Flugzeug fliegen, den ICE benutzen, joggen, wandern oder auf der Couch sitzen, so bleibt uns Carr leider den stringenten Beweis schuldig, dass wir im Jahrzehnt des Internets nicht auch situationsangemessen fähig sind, jeweils gezielt abwechselnd zu Buch, Zeitung, iPhone oder notebook zu greifen.
Leider erleichtert Carr der Leserin nicht gerade die Lektüre seines Buches. Etwas schnell, fast könnte man sagen: lieblos, werden da Passagen ganz unterschiedlicher Thematik aneinander gereiht, ohne dass sie stringent miteinander verknüpft und in eine thematische Perspektive gebracht werden. Da gibt es überaus plastische Beschreibungen, was und in welchem Tempo der PC und das Internet die Menschheit verändert hat.
Surfen und Denken - Rezension von Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin
Unvermittelt danach vergräbt sich Carr dann wieder in die Tiefen der Gehirnforschung. Und schließlich schwebt über allem so ein leicht melancholischer Nostalgienebel a la: Früher war alles viel besser und was sollen wir nur machen angesichts der Massivität von Blogs, Twitter, Facebook und Co.? 
Manchmal ist es auch einfach ärgerlich, dass Carr dem Stand der Internetmöglichkeiten hinter her hinkt, zB wenn er bei seiner Gegenüberstellung von real books und e-books Defizite am e-book kritisiert, die softwaremässig schon längst überwunden sind.
Die zentrale These von Carr ist offenbar, dass das Internet-Surfen uns zu unaufmerksamen, zerstreuten, vorschnellen LeserInnen macht: "Das Internet ist eine Maschine zur Minderung der Aufmerksamkeit". Und irgendwie schwebt über allen Ausführungen des Autors etwas Apokalyptisches. Seine tiefsinnigen Gedanken über die verschiedenen Gehirntätigkeiten mögen ja Relevanz haben, aber warum soll es ganz praktisch von Nachteil sein, wenn wir uns so - mit Verlaub - sinn-lose Informationen wie Telefonnummern, Fahrplaninfos oder auch ganze Gesetzestexte nicht mehr merken müssen, sondern nur noch zu wissen brauchen, wo und wie wir sie ergoogeln können? Das macht uns doch frei unser Denkkapazität nicht mehr als Informationsspeicher zu vergeuden, sondern sie frei zu machen für Urteilskraft, Unterscheidungsvermögen, Differenzierung von Ansichten. 
Surfen und Denken - Rezension von Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin
Was überhaupt nicht in Carrs Buch vorkommt, ist, dass surfen einfach Spaß machen kann, sei es nun chatten,  social networking, online Schach spielen. Und Carr berücksichtigt auch nicht wichtige politische Funktionen des Internet wie z.B. das Flüchtlingsnetzwerk nach dem Balkankrieg, die Gegeninformationen zu den Wahlen im Iran oder die Möglichkeiten, die das Netz chinesischen DissdentInnen eröffnet. Nur kulturkritisch über das Web nachzudenken genügt eben doch nicht. 


Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin... und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert. Karl Blessing Verlag München 2010, Euro 19.95


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