„In Italien und Griechenland häufen sich die Selbstmorde aus wirtschaftlich motivierten Gründen. Der Basler Soziologe Ueli Mäder erklärt, welche gesellschaftlichen Umstände Menschen in den Selbstmord treiben.
Ueli Mäder: Bei zwei Bevölkerungsgruppen ist die Enttäuschung besonders gross. Erstens bei Jugendlichen, die viel in ihre Ausbildung investieren und trotzdem nicht reüssieren. Und zweitens bei mittelständischen Fachkräften, die eine gute berufliche Ausbildung haben und plötzlich nicht mehr gefragt sind. Generell gilt aber: Je tiefer die Einkommen, desto grösser sind die gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Das ist auch bei Depressionen so. Sie betreffen vor allem Arbeitslose. Hinzu kommen besonders Leistungstüchtige, die absteigen und einen Statusverlust erleiden. Junge und ältere Menschen neigen zudem eher dazu, Suizid zu begehen. Auch, weil sie weniger in gängige Strukturen integriert sind. Männer sind ebenfalls suizidgefährdeter. Bei Frauen kommen allerdings Suizidversuche häufiger vor als bei Männern.
Eine radikale Sparpolitik der Regierungen könne eine Wirtschafts- und Finanzkrise in eine Epidemie verwandeln, warnt der britische Soziologe David Stuckler. Stehen Länder wie Italien oder Griechenland am Anfang einer Art Suizid-Epidemie?
Wenn der angelsächsische Neoliberalismus weiter dominiert, dann verschärft sich die soziale Brisanz. Dann erhöht sich auch die Zahl der Suizide. Aber von einer Epidemie würde ich nicht sprechen. Es geht bei diesen Suiziden auch nicht um eine Krankheit. Sie sind vielmehr Folge einer unsinnigen Verteilung des Reichtums. Europa ist reicher denn je. Aber mit der Verteilung hapert es. Hier müsste die Politik ansetzen. Wenn die Menschen wieder Mut schöpfen und eine bessere Zukunft erwarten können, dann nehmen die Suizidraten vermutlich wieder ab.
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Gemäss Studien sind seit der Finanzkrise 2007 und der Rezession ab 2008 in ganz Europa mehr Selbstmorde zu verzeichnen. Dennoch gibt es auffällige Unterschiede, etwa zwischen nord- und südeuropäischen Ländern. Wie ist dies zu erklären?
Die Unterschiede sind tatsächlich gross: Skandinavische Länder verzeichnen mit Ausnahme Finnlands eher niedrige Suizidraten, ebenso die südlichen Länder Europas. Im Süden sind die Menschen mehr auf der Strasse. Es ist offensichtlicher, wer von Not betroffen ist. Das erleichtert den Schulterschluss und die Solidarität. Der Gemeinschaftsgeist und die soziale Solidarität sind stärker ausgeprägt. In der Schweiz und in Deutschland ist jedoch der Individualismus besonders stark. Hier herrschen auch mehr Wettkampf und Leistungsdenken vor. Und die Suizidrate ist deutlich höher.“
Quelle und gesamtes Interview: http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/Diese-Suizide-sind-Folge-einer-unsinnigen-Verteilung-des-Reichtums/story/11337440