Sufis: die Troubadoure aus dem Orient

Von Mehriran

19.03.2010Kultur erstellt von Sabina Marineo

Die Sufis, die Mystiker aus dem Orient, waren und sind heute noch in erster Linie große Philosophen und Gelehrte. Sie sind auch Dichter, Wissenschaftler und Magier, und bezeichnen sich selbst als „die Liebenden“.

Eigentlich sind sie Suchende im höchsten Sinn des Wortes: ihr ganzes Leben lang streben sie nach Erkenntnis. Man kann nicht von einer religiösen Bewegung sprechen, denn der Sufi-Gedanke ist jenseits von Atheismus  und Glaube. Die Wiege des Sufismus liegt in der arabischen Welt. Das Wort Sufi könnte sich auf „suf“, „Schurwolle“, beziehen und somit auf die wollenen Gewänder der Sufis hinweisen; aber es könnte auch „safa“ entstammen, was soviel wie „rein“ bedeutet. Zu Beginn – zwischen 700 n.C. und 1200 n.C. - waren die Sufis einzelne Asketen; erst später entwickelten sich die ersten Ordensgemeinschaften. Idries Shah präzisiert, dass der Name „Sufi“ bereits verwendet wurde, bevor Mohammed seine Botschaft verkündete. Er erklärt außerdem: „Sie (die Sufis) haben große Theologen, Dichter und Wissenschaftler hervorgebracht. Sie akzeptieren die Atomtheorie und formulierten eine Wissenschaft der Evolution gute sechshundert Jahre bevor Darwin lebte. Sie wurden als Heilige verehrt und als Ketzer verfolgt und getötet. Sie lehren, dass aller Religion eine einzige Wahrheit zugrunde liegt. Einige Sufis haben gesagt:- Ich glaube an nichts -, andere wiederum: - Ich glaube an alles- Einige sagen: - Ein Sufi darf nichts leicht nehmen -, andere behaupten: - Es gibt keinen Sufi ohne Humor - .“ („Die Sufis“, Idries Shah)  
Angesichts der Mannigfaltigkeit der Schulen und der Verschiedenheit der religiösen und philosophischen Vorstellungen ihrer Meister ist es sehr schwierig, den sufischen Gedanken zu definieren. Von einigen Gelehrten wird der Sufismus als ein vollkommener Pantheismus betrachtet, der in der Suche nach Erkenntnis und Wiedervereinigung mit dem Göttlichem strebt. Ich ziehe es aber vor, nicht unbedingt von einer religiösen Lehre zu sprechen. Denn das sufische Glaubenssystem überschreitet – seiner freien Denkweise wegen - jede religiöse Grenze. Vielmehr scheint es mir eine Geisteshaltung, eine erleuchtete Lebensphilosophie zu sein. 
„Ich lebe im Heiden; ich bete am Altar des Juden; ich bin der Götze des Yemeniten, der wahre Tempel des Feueranbeters, der Priester des Magiers; ich bin die innere Wirklichkeit des mit verschränkten Beinen meditierenden Brahmanen, der Pinsel und die Farbe des Malers, die unterdrückte kraftvolle Persönlichkeit des Lästerers. Das eine macht das andere nicht unwirksam – bringt man zwei Flammen zusammen, so vereinigen sie sich in ihrem Flammenden. Ihr werft eine Fackel auf eine Kerze, und dann sagt ihr: - Seht her, wir haben die Flamme der Kerze vernichtet!- “ 
(„Speech of the Sages“, Ishan Kaiser) Zu Beginn seiner Geschichte wird der Sufismus teilweise als eine gewisse Gegenreaktion auf die religiöse Strenge des Islams gedeutet. Die Sufi-Meister benutzten eine eigene Geheimsprache, um ihre Gedanken mitzuteilen. Wenn man sich ihren Schriften widmet, besteht heute noch für den Laie die Schwierigkeit, sie richtig zu deuten: sie wurden seit jeher verschlüsselt, damit sie nur dem Sufi verständlich sind und ihm damit den Weg zu einer tieferen Realität ermöglichen.
Zur speziellen Verschlüsselung gesellen sich zahlreiche typische Wortspiele der Meister, die eine Deutung zusätzlich erschweren. Die semitischen Sprachen – und in erster Linie das Arabische - eignen sich besonders für derartige Wortspiele, da sich ihre Schriftform auf Konsonanten beschränkt. Indem man diesem „Konsonanten-Skelett“ verschiedene Laute hinzufügt, kann man die Bedeutung des Wortes ändern. Dies ist aber noch nicht alles, denn auch die Zahlen spielen in der Verschlüsselung eine sehr wichtige Rolle. Die arabische Sprache ist philologisch deutlich älter als die hebräische, sie steht den ursprünglichen semitischen Sprachen am nächsten und basiert auf mathematischen Prinzipien. Jeder Buchstabe hat sowohl einen phonetischen als auch einen numerischen Wert. Indem man die Zusammensetzung der Zahlen ändert, kann man auch die Bedeutung des ursprünglichen Wortes verändern. Es existiert also eine sehr enge Beziehung zwischen Zahlen und Buchstaben. Mathematische und grammatikalische Zeichen wirken durch einen steten wechselseitigen Austausch.

Im 9. Jahrhundert lebte in Ägypten der Sufi Dhu’l- Nun, der den Derwischen Orden der Baumeister gründete. Dhu’l- Nun kam aus Nubien und wurde auch „der Schwarze“ genannt. Aber die schwarze Farbe ist ebenso Synonym für Wissen und Erkenntnis. Dem ursprünglichen Namen Ägyptens, „kmt“, schwarze Erde, ist die geheime Bedeutung dieser Farbe in der Überlieferung geblieben. Der Gott Osiris wurde auch „der Schwarze“ genannt und die Alchimie war ursprünglich „kemeia“, die schwarze Kunst. Die Sufis glauben, dass Dhu’l- Nun die Lehre von Hermes Trismegistos weitergab. Sie nennen ihren nubischen Meister auch „König der Fische“ . Hermes Trismegistos wird also als der Begründer der sufischen Lehre anerkannt. Sein arabischer Name lautet: „Idris“. Der Historiker Said von Toledo berichtete: „Weise Männer bestätigen, dass alle vorsintflutlichen Wissenschaften ihren Ursprung in dem ersten Hermes haben, der in Sa’id, im Oberen Ägypten, lebte. Die Juden nennen ihn Enoch, die Mohameddaner Idris. Er war der erste, der vom Stoff einer höheren Welt sprach und von der Bewegung der Planeten. Er erbaute Tempel für die Anbetung Gottes...er war Dichter und Arzt...noch vor der Flut warnte er, es werde eine Feuer- und Wasserkatastrophe kommen...Nach der Flut wurden die Wissenschaften, auch Alchimie und Magie, in Memphis betrieben, unter dem noch berühmten Hermes dem Zweiten“ („Asin Palacios“, Ibn Masarra)
Leonardo Fibonacci, der große Mathematiker und „Erfinder“ der Goldenen Zahl, wurde 1180 in Pisa geboren. Leonardos Vater arbeitete als Kaufmann in Algeri. Sein Sohn verbrachte seine Jugend bei ihm und wurde deshalb von einem muslimischen Lehrer unterrichtet. Fasziniert von den Rechenmethoden der Kaufleute, lernte Fibonacci das Arabische und das Griechische und bereiste Ägypten und Syrien. Im Jahr 1202 verfasste er sein Werk „Liber abaci“, in dem er als erster Europäer die arabischen (bzw. indischen) Zahlzeichen, die Null, das Dezimalsystem und die arabische Algebra tiefgründig darlegte und ins Abendland einführte. Leonardo Fibonacci begab sich im Jahr 1225 in Pisa, wo ein mathematisches Turnier im Gange war. Kaiser Friedrich II von Hohenstaufen zählte zu den Zuschauern, denn sein Schützling, der Wissenschaftler und Mathematiker Johann von Palermo, hatte verschiedene komplizierte mathematische Aufgaben gestellt. Diese wurden von Fibonacci auf hervorragende Weise gelöst. Auch der allseits beliebte Heilige Franziskus von Assisi zählte zu jenen, die sich für die orientalische Welt interessierten und deren neue Impulse wahrnahmen. Franziskus wurde im Jahr 1182 in Assisi geboren. Sein Vater, der reiche Kaufmann Pietro di Bernardone, reiste oft geschäftlich nach Südfrankreich. Francescos Mutter, Madonna Giovanna, stammte aus der Provence. Deshalb hatte Pietro di Bernardone seinen Erstgeborenen „Francesco“ – der aus Frankreich stammende - genannt, ein damals unüblicher Name in Assisi. Von seiner südfranzösischen Mutter erbte Franziskus die Liebe zur okzitanischen Sprache. Er war in seiner Jugend der Anführer der Troubadoure von Assisi und sprach und dichtete auch auf provenzalisch. Als er mit nur 23 Jahren plötzlich seine Berufung zum Mönchsleben bekannt gab und somit dem Reichtum und der Erbschaft seines Hauses entsagte, versammelte sich an jenem Tag die ganze Stadt Assisi auf dem Marktplatz. Franziskus hatte ein paar Tage zuvor einige Stoffe aus dem Laden seines Vaters ohne Erlaubnis mitgenommen und weiterverkauft, um die Restaurierung der alten Kirche San Damiano zu finanzieren. Nun stand er vor Gericht. Auf der Piazza, unter dem strengen Blick des Bischofs und von der Menge umgeben, erklärte Franziskus seine Unabhängigkeit. Mit einer spontanen Geste, die ihm die Bewunderung des Geistlichen und der ganzen Stadt entgegenbrachte, entledigte er sich sämtlicher luxuriösen Kleider und des Geldes in seiner Tasche und blieb nackt auf der Strasse stehen. Dann stellte er Kleider und Geld zu Füßen seines Vaters und verkündete die Absicht, von diesem Augenblick an sein Leben in Armut und Gebet zu verbringen. Er wollte nach dem Evangelium leben und bezeichnete sich ironisch als „giullare di Dio“, „ Gaukler Gottes“. Gewiss argwöhnte man zunächst - vor allem der Bischof -, Franziskus habe die ketzerische Lehre des Waldus angenommen. In der Tat wies das Verhalten Franziskus beunruhigende Parallele zu jenem dieses reichen Kaufmannes aus Lyon auf. Nur einige Jahre vor der Geburt Franziskus hatte der dreißigjährige Waldus seine Familie und sein Besitztum zurückgelassen, um ein Leben in Armut zu praktizieren. Eine Gruppe von Anhänger , „die Armen aus Lyon“, gesellte sich Waldus, während er eifrig dem Volk das Evangelium predigte. Im Jahr1184 wurden Waldus und die Waldenser vom Synodus bei Verona verdammt. Viele von ihnen flüchteten nach Italien. Es gibt sicherlich Parallele zwischen Waldus’ Ideologie und dem spirituellen Gedanken des Franziskus. Doch die römische Kirche merkte sehr schnell, dass Franziskus einer anderen Linie folgte: Im Gegensatz zu Waldus suchte er weder nach Konfrontation, noch nach einem Vergleich mit der Kirche. Der italienische Mönch war stets versöhnlich und heiter, und seine Predigten verliefen ruhig, ohne Auseinandersetzungen zu verursachen.
Von Tommaso da Celano – der Autor des berühmtes „Dies irae“- haben wir ein Porträt des Heiligen: „Sehr lebhaft im Sprechen, stets lächelnd, heiter im Gesicht, von mittlerer Größe, eher klein (...) Einfach unter den Einfachen, strahlte er eine unendliche Ruhe aus und konnte sich der Liebesweise jeder einzelnen Person anpassen. Er, der heiligste unter den heiligsten, wenn er unter den Sündern ging, schien einer von ihnen zu sein.“ (Tommaso da Celano; „Vita prima“) Dieses Bild von Tommaso da Celano erinnert uns an Franziskus’ Selbstbezeichnung als „Gaukler Gottes“ . Sicherlich war Franziskus ein „Liebender“ im sufischen Sinne. Er strebte nach Erkenntnis in der Natur, suchte Kontakt zu den Tieren, redete sogar mit ihnen, und am Ende seines Lebens verbrachte er 40 Tage als Eremit in einer Höhle des Berges Verna. Dante Alighieri siedelt Franziskus im Paradies an, und zwar unter den 12 glänzendsten Geisteswissenschaftlern, Mystikern und Theologen. „Eine Sonne wurde der Welt geboren“; so beschreibt Dante Franziskus’ Geburt. Viele Parallele zwischen dem Verhalten von Franziskus und den orientalischen Motiven sind in Anekdoten seines Lebens zu finden. Sie führen zu der Annahme, dass der Heilige ein Bewunderer des sufischen Gedankens war. Selbst sein literarisches Meisterwerk „Il cantico delle creature“ - „Das Lied der Sonne“- findet eine Parallele in den Gedichten des Sufi- Meisters Jalaluddin Rumi, Oberhaupt der Wirbelnden Derwischen. Doch Franziskus wollte anscheinend mehr über diese Philosophie erfahren, denn er versuchte mehrmals den Nahen Osten zu erreichen. Als Dreißigjähriger plante Franziskus eine Reise nach Syrien, doch das Unternehmen scheiterte aus finanziellen Gründen. Dann überquerte der Heilige ganz Spanien, um nach Marokko zu gelangen. Er wurde aber krank und musste nach Italien zurück, noch bevor er sein Ziel erreichen konnte. Schließlich erreichte er im Jahr 1219, das ägyptische Damiette. Die Stadt war belagert und auf der gegenüberliegenden Seite des Nils befand sich das Lager des Sultans Malik-el-Kamil. Franziskus begab sich zum Sultan. Er und sein Begleiter Frater Illuminato wurden gefangen genommen und dem Sultan vorgeführt. Kamil hörte den beiden Mönchen wohlwollend zu und erlaubte ihnen für seine Soldaten zu predigen. Franziskus und Illuminato erhielten sogar die Erlaubnis, sich frei in den Ländern des Sultans zu bewegen und zu predigen. Christliche Chronisten behaupteten, er wolle den Sultan bekehren. Doch in Wahrheit scheint diese dritte Reise in enger Verbindung zu den beiden vorigen Unternehmen des Heiligen zu stehen. Jedenfalls wissen wir, dass Franziskus enttäuscht und entsetzt war von dem Massaker, das die Kreuzritter in Damietta verübt hatten. Er bevorzugte das christliche Lager zu verlassen und wanderte zu den heiligen Plätzen Palästinas. Nach seiner Rückkehr aus dem Nahen Osten verfasste er das „Lied der Sonne“ . Idries Shah findet noch viele weitere Parallelen zwischen Franziskus und den Wirbelnden Derwischen: die Bekleidung mit Kapuze und weiten Ärmeln, der Tausch der weltlichen Kleider mit einer Mönchskutte, die Verbannung des Dornenkreuzes als Selbstkasteiung Objekt und auch die franziskanische Idee des „heiligen Gebets“, sowie Franziskus’ typische Begrüßung: „Pace a voi“ - „Der Friede sei mit euch“ -, die eine arabische Begrüßung ist. Durch Spanien und Sizilien, und zum Teil durch die Kreuzzüge kam der sufische Gedanke ins Abendland. Ich schrieb „zum Teil durch die Kreuzzüge“, aus einem bestimmten Grund: wenn einerseits die Kreuzzüge die Kontakte zwischen christlicher und islamischer Welt im Heiligen Land verstärkten, andererseits führten sie andererseits im gesamten Abendland zu einer Verteufelung der muslimischen Länder in toto und erschwerten somit eine friedliche, offene Zusammenarbeit der beiden Kulturen. Und doch: selbst die christlichen Mystiker fühlten sich zu den erneuernden, tiefen Erkenntnissen der orientalischen Welt hingezogen. Sie ließen sich anscheinend nicht von der Gefahr der Häresie abschrecken, und viele von ihnen führten so zu sagen ein Doppelleben: einerseits lebten sie wie fromme Christen, andererseits dachten sie wie sufische Gelehrte. Im 12. Jahrhundert lebte der Meister Suhrawardi in Aleppo. Er verfasste das Werk „Das Wissen von der Erleuchtung“ und wurde vom Orden der Orthodoxen ermordet. Man verbrannte öffentlich seine Schrift, doch einige Exemplare haben überlebt: Suhrawardi bezeichnet die sufische Überlieferung als identisch mit den esoterischen Lehren der alten Ägypter, der Griechen und der Perser. Genauso dachte auch der englische Gelehrte Roger Bacon, der dieses Wissen in Europa verbreitete. Bacon bestätigt in seinen Schriften, dass das sufische Gedankengut aus dem altägyptischen Raum stammt und später von Pythagoras, Zarathustra und Sokrates gelehrt wurde. Die Sufis haben sich schon immer „die Liebenden“ genannt. Doch hinter dem Begriff der Liebe verbirgt sich vielmehr das Streben nach Wahrheit, nach der Erkenntnis. In seinem Buch „Die Sufis“ gibt Idries Shah eine kurze Geschichte des großen Meisters Rumi wieder. Sie betrifft die Liebe. Dies ist ein typisches Beispiel des sufischen Denkens, deshalb möchte ich es hier zitieren: „Ein Mann kam zur Tür der Geliebten und klopfte. Eine Stimme fragte: - Wer ist da? – -Ich bin es -, antwortete er. Da sagte die Stimme: -Hier ist nicht genug Platz für mich und dich.- Und die Tür blieb geschlossen. Nach einem Jahr der Einsamkeit unt Entbehrung kam der Mann wieder und klopfte. Von drinnen fragte die Stimme: - Wer ist da?- - Du bist es -, sagte der Mann. Und die Tür wurde geöffnet.“ (Jalauddin Rumi)
Dieses Bild der Liebe als Spiegel und Verschlüsselung für die Selbsterkenntnis wurde von den westlichen Troubadouren verwendet und alsbald in das Wertesystem der ritterlichen Welt eingegliedert. Die Frau nahm eine herausragende Rolle in den adligen Kreisen von Spanien, Languedoc und Sizilien ein: sie wurde die Verkörperung der Minne, die lebende Verwirklichung der Selbsterkenntnis, in ihrem Wesen verbarg sich das Licht, das zum wahren Wissen führte. Während die abendländischen Städte sich organisatorisch mit großer Mühe entwickelten und viele von ihnen Anfang des 12. Jahrhunderts immer noch die Maße und das Aussehen eines geräumigen Dorfes aufwiesen, standen die Metropolen der orientalischen Welt in voller Blüte. Bereits zu Beginn des 9. Jahrhunderts war Bagdad eine Stadt ersten Ranges: „Es gab dort tausend approbierte Ärzte, ein großes kostenloses Krankenhaus, einen regelmäßigen Postdienst, mehrere Banken, von denen einige Niederlassungen in China hatten, eine hervorragende Kanalisation für Trink- und Abwasser sowie eine Papierfabrik.“ („Der heilige Krieg der Barbaren“, Amin Maalouf) Antiochia, Aleppo und Damaskus waren schöne, große Metropolen mit gut organisierten Krankenhäusern, zahlreichen Bazars und Obstgärten, und konnten schon damals ein paar Hunderttausend Einwohner aufweisen. In diesen Gebieten bewegten sich die Sufis, dort breiteten sie ihre Lehren aus und dort fanden während der Kreuzzüge enge Kontakte zwischen ihnen und den Menschen des Abendlandes statt. Dieser Fortschritt in den arabischen Ländern des Mittelalters war das Ergebnis einer weitblickenden Einstellung der muslimischen Religion. Der Islam-Forscher John Hunwick drückte die kulturelle Situation des Mittelalters in den muslimischen Ländern in einem Interview für die deutsche Zeitschrift „Geo“ auf folgende Weise aus: „Die Wissenschaft stellte sich im Dienste des Korans. Medizinische Forschung galt in der islamischen Welt als Ausdruck religiöser Barmherzigkeit. Und während sich in Europa Seuchen wie die Pest aufgrund medizinischer Ahnungslosigkeit ausbreiten konnten, entwickelten arabische Gelehrte moderne Hygienenmaßnahmen und errichteten die ersten Krankehäuser. Während Galileo Galilei für seine astronomischen Erkenntnisse in Italien der Scheiterhaufen drohte, erforschten arabische Astronomen ungehindert den Lauf der Himmelskörper, um die Gebetsstunden genau festlegen zu können. Die Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne dreht, war in der islamischen Wissenschaft längst Gewissheit, während im Abendland noch eisern am kirchlichen Dogma der Erde als Mittelpunkt des Universums festgehalten wurde.“ In der Tat gibt es Dokumente, die für die Kenntnis revolutionärer Erfindungen seitens der arabischen Gelehrten sprechen, die schon Tausende von Jahren vor den Errungenschaften unserer abendländischen Wissenschaftler gemacht wurden. Der Astronom Abbas Ibn Firnas, zum Beispiel, hatte bereits im Jahr 870 in Spanien einen Flugapparat gebaut und war sogar damit geflogen. Der Araber Alhazen hatte im 10. Jahrhundert jene tiefgründigen Studien über die Optik und die Fernsehgeräte verfasst, an die nur viel später Leonardo und Kepler anknüpften. Der technische Fortschritt scheint den Templerorden ebenso interessiert zu haben. Mehrere Forscher sind sich einig, indem sie dem Wirken der Templer in Europa eine Zeit der Verbesserung der Landwirtschaft , des Gesundheitswesens und der diplomatischen Verhältnisse in der Auslandspolitik zuschreiben. Der spanische Autor Juan Atienza schreibt: „Was den Templerorden anbelangt, es ist eine bedeutende Tatsache, dass, sobald der Orden verschwand (zumindest offiziell), bestimmte Ereignisse stattfanden, die ein Prozess des Rückschrittes im Abendland – in Vergleich zum 12. und 13. Jahrhundert - hervorbrachten. Die Schwarze Pest zerstörte halb Europa und halbierte somit innerhalb weniger Jahren ihre Bevölkerung; der Hundertjährige Krieg entfachte sich nur zwanzig Jahre nach der Auflösung des Ordens, nachdem es den Templern von Frankreich und England die ganze Zeit gelungen war, gute Verhältnisse zwischen den streitlustigen Fürsten aufrecht zu halten.“ („Il segreto dei Templari“, Juan Atienza) Aber kommen wir zu den islamischen Sufis zurück. Bereits im 8. Jahrhundert hatten sich die arabischen Gelehrten in Spanien niedergelassen, und ein Jahrhundert später lebten die Sufis zusammen in den Ribbat, den Klosterfestungen. Das 9. Jahrhundert steht in der Iberischen Halbinsel für die abendländische Blüte des Sufismus. Ungefähr zwei Jahrhunderte danach, im 11. Jahrhundert, entstanden die ersten Gedichte auf provenzalisch. Die Troubadoure hatten die Tragweite der sufischen Botschaft begriffen und versuchten, sie unauffällig durch ihre Liebesminne zu verbreiten. Die Bezeichnung „Troubadour“ , der „Finder“, lässt sich ursprünglich von einer arabischen Wurzel herleiten: „rbb“, was „Viola“ bedeutet. Denn diese bestimmte Sufi-Gemeinschaft, deren Mitglieder sich die „Sklaven der Liebe“ nannten, spielte eben die Viola. Und aus dem arabischen Wort für „Viola“ wurde das europäisches „Troubadour“. In Italien etablierte sich im 13. Jahrhundert die „Scuola siciliana“ , die sizilianische literarische Bewegung am Hofe der Staufer. Friedrich II von Hohenstaufen, Zögling der Templer, Bewunderer der arabischen Welt und selbst guter Kenner der arabischen Sprache, gründete diese Institution. Friederich sprach und schrieb arabisch perfekt, seine vertrauten Mitarbeiter und die Soldaten seiner Leibgarde waren alle Araber. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Friedrich in Sizilien aufgewachsen war und dort in Obhut des Templerordens studiert hatte: diese Insel war damals der Mittelpunkt der arabischen Wissenschaften. Der deutsche Kaiser war eng befreundet mit dem Sultan von Ägypten, Al-Kamil, derselbe Sultan, der auch den heiligen Franziskus von Assisi empfangen hatte. Die zwei Monarchen unterhielten eine ausgedehnte Korrespondenz über die Philosophie Aristoteles und andere wissenschaftliche Themen. Der Sultan schenkte Friedrich exotische Tiere, damit der deutsche Kaiser seine wissenschaftlichen Beobachtungen betreiben konnte und lud ihn freudig ein, ihn in seinem Heimatland zu besuchen. Al-Kamil ging so weit, Jerusalem dem Staufer anzubieten. Friedrich nahm das großzügige Angebot sofort an, doch sicherlich nicht aus religiösen Gründen. Vielmehr konnte er auf diese Weise seine Machtstellung dem Papst gegenüber – trotz Exkommunikation - festigen. Und als sich die politische Lage im Orient plötzlich änderte und Al-Kamil begriff, dass die Übergabe Jerusalems einem westlichen Monarchen ihn in ernste Schwierigkeiten bringen würde, beginnt zwischen den beiden ein reger Briefwechsel, indem jeder versuchte, den anderen mit den freundlichsten Ausdrücken von seiner Meinung zu überzeugen. Am Ende siegte Friedrichs diplomatische Kunst, und zum ersten Mal nach den Kreuzzügen schaffte es der Staufer, Teile der Heiligen Stadt für die christliche Welt zurück zu gewinnen,ohne Blut zu vergießen. Dieser deutsche Kaiser, der von den Zeitgenossen „Stupor mundi“ genannt wurde, gründete die „Scuola siciliana“. Somit wurde zum ersten Mal in der Geschichte der italienischen Halbinsel das „Volgare“ - statt des Lateins -, als literarische Sprache anerkannt und benutzt: das Volgare war eine Mischung aus Latein, Italienisch und süditalienischem Dialekt. Die Dichter der Toskana nahmen mit Begeisterung das neue poetische Genre der sizilianischen Schule an, und außerdem verfeinerten sie das Volgare so lange, bis sich aus ihm langsam die offizielle italienische Sprache entwickelte. In ihren Kompositionen bezogen sich die Toskaner auf die Themen der sizilianischen Dichtung, die wiederum denjenigen der okzitanischen Lyrik entsprachen. Die Dichtung des Languedoc erreichte somit sehr schnell sowohl die wichtigsten kulturbewussten Adelskreise als auch die Universitäten Europas. Die literarische Technik der Troubadoure wurde dort gelehrt, in Italien dichteten viele Autoren sogar direkt in der okzitanischen Sprache. Aber zusammen mit der okzitanischen Dichtung hatte auch die Philosophie des Sufis Ibn Ruschd von Cordoba, besser als Averroe bekannt, Friedrichs Hof erreicht. Sie wurde vom Gelehrten Michael Scotus eingeführt, und auf demselben Weg erlangten die esoterischen Schriften und das Gedankengut der Sufis die Halbinsel. Der toskanische Dichter Guittone d’Arezzo lehrte und verbreitete die Lyrik der Troubadoure in ganz Italien. Von Guittone wiederum lernte der toskanische Literat Guido Guinizelli die neue Lyrik kennen, der eine eigene Bewegung ins Leben rief: „Il dolce stil nuovo“, „der süße neue Stil“. Zu den Dichtern dieses Kreises zählt der große Dante Alighieri. Einige Sufis, wie der Meister Omar Khayyam, verbargen die geheime Erkenntnis hinter dem symbolischen Bildnis des Weins, andere hinter demjenigen der Rose. Auf die Rose bezog sich auch Dante Alighieri in seinem Werk „Die göttliche Komödie“ . Zu Beginn des monumentalen Poems wacht der Dichter eines Tages in einem dunklen Wald auf. Er findet den rechten Weg nicht mehr, fühlt sich allein und verlassen und fürchtet sich vor den wilden Tieren. Doch der lateinische Gelehrte Vergilius erscheint plötzlich vor seinen Augen: um den richtigen Weg wieder zu finden, schlägt er Dante vor, ihn bei einer Reise ins Jenseits zu begleiten. Dante willigt ein, und überquert infolgedessen an Vergilius’ Seite die Hölle; dann wird er von seiner großen Liebe Beatrice und von Bernard de Clairvaux durch den Läuterungsberg bis zum Paradies begleitet. Es ist eine sehr lange Reise, und Dante begegnet auf dem Weg vielen berühmten Persönlichkeiten seiner Zeit. Die „Militia Christi“, die Templer, warten im Paradies auf ihren geistigen Vater Bernard, und Johannes der Täufer sitzt bereits neben dem Herrn. Dante befindet sich am Ende seiner Reise vor einer weißen Rose, die ein überwältigendes Licht ausbreitet und alles erleuchtet. Dies ist Gott, sagt Dante, aber in Wahrheit meint er: dies ist Sophia, die mystische, alles durchdringende Erkenntnis. Dante, ein Bewunderer des Templerordens, verdammt in seinem Werk Papst Clemens V. und König Philipp den Schönen, und hofft auf eine Wiederherstellung des Ordens. Er spricht von einem Retter, der eines Tages den Tempel wiedererrichten wird. Die anmutige Beatrice, die teilweise Dante bei seiner Reise ins Jenseits begleitete, verkörperte in Wahrheit die Frau der Troubadoure. Sie war das Symbol der Minne, der Eingebung, der Liebe, die zur Erkenntnis führt. Der Dichter ließ Päpste und Könige erbarmungslos in die Hölle schmoren, er nahm sich die Freiheit, bis zum Paradies zu gelangen und mit den Heiligen zu plaudern. Spuren der orientalischen, islamischen Dichtung sind in der Komödie überall zu finden: aus persischen Legenden, aus dem Koran, aus dem „Risalat al-Ghufran“ von Al-Marri, aus dem „Futuhat“ von Ibn-Arabi. Die „Göttliche Komödie“ lief Gefahr vernichtet zu werden. Doch es gelang Boccaccio – dem Autor des „Dekameron“ und Dantes Freund - zu beweisen, dass Beatrice eine reale Person war, eine Bekannte von Dantes Kreis, und das ketzerische Poem überlebte glücklicherweise den Scheiterhaufen. Dante Alighieri und seine Freunde, die sich als “ Fedeli d’amore“ bezeichneten, benutzten dieselbe Technik wie die Troubadoure: sie verschlüsselten ihre Werke. Sie sprachen in ihren Gedichten stets von geheimnisvollen Frauen, die sie über alles liebten und verehrten. Diese Frauen tragen verschiedene Namen, doch seltsamerweise entsprechen sie immer dem gleichen Typus, einem unerreichbaren Liebesideal. Sie heißen: Fiammetta, Mandetta, Beatrice, Laura, Selvaggia, aber sie sind die Weisheit Sophia, das unsterbliche, göttliche Licht. Man konnte diese Gedanken freilich nicht offen verbreiten, denn das Wissen, das nicht durch die Lehre der Kirche gefiltert wurde, durfte nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Normalerweise hätten diese unorthodoxen Überlieferungen im Laufe der Zeit verloren gehen müssen. Es ist erstaunlich, dass die ägyptische Botschaft durch griechische, persische, arabische, sufische Übertragung die Jahrhunderte überlebte und die heutige Zeit erreichte. Doch der Wissensdurst des Menschen kennt keine Grenzen.

Mit freundlicher Genehmigung von Sabina Marineo

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