Süße Wahrheiten

Warum wir alle in der Zuckerfalle stecken, warum süße Früchte oft dicker machen als „normaler“ Zucker und was das alles mit unserem Steinzeitgehirn zu tun hat. 

Süße Wahrheiten

Süße Früchte: Mmh, lecker!

Wenn wir Süßes schmecken, erwachen in unserem Gehirn die Steinzeit-Reflexe. So als wären wir auf unserem Streifzug auf ein großes Feld mit Heidel- oder Himbeeren gestoßen – auch wenn wir in Wahrheit nur einen kräftigen Zug aus der Limoflasche genommen haben. „Und darauf springt unser Steinzeitgehirn ganz gewaltig an“, sagt Jürgen König, Ernährungswissenschaftler an der Universität Wien. „Der Drang, das sofort zu verzehren, ist für die Menschen gewaltig – auch damit uns das keine Tiere weg essen.“
Doch was sich in den Genen so tief eingeprägt hat, gilt heute nicht mehr. Wir stehen nicht mehr mit Affenhorden in Konkurrenz. Und die Beerenfelder und Obstbäume in den Kühlregalen der Supermärkte tragen das ganze Jahr reiche Früchte.
Jürgen König unternimmt zur Zeit mit seinem Team Fütterungsexperimente mit Würmern. Darin wird untersucht, wie sich verschiedene Arten von Zucker auf die Gene des Modell-Wurms 'C.elegans' auswirken. „Bei den Würmern ist es eindeutig, dass der Überfluss ihr Leben verkürzt“, sagt König. „Wenn sie wenig Zucker kriegen, leben sie etwa um ein Drittel länger.“
Dass bestimmte Arten von Zucker schädlicher sind als andere, hat König bisher im Tierversuch nicht bestätigen können. Sowohl Haushaltszucker als auch Fruchtzucker, Milchzucker oder Traubenzucker haben alle etwa gleich viel Energie: Nämlich 4 Kilokalorien pro Gramm. Es sieht so aus, als ob es vorwiegend auf die Menge an Energie ankommt, welche die Würmer fressen. Je mehr Energie, desto früher sterben sie. „Die Natur hat ja kein besonderes Interesse daran, dass ein Lebewesen steinalt wird“, erklärt König. „Wichtig ist die Arterhaltung und die Weitergabe junger, gut erhaltener Gene.“ In Zeiten des Überflusses setzt die Fortpflanzung früh ein. Damit hat der Wurm seine evolutionäre Aufgabe erfüllt: C. elegans kann gehen.
Alle Lebewesen haben diese Tendenz einprogrammiert: Zu essen, solange etwas da ist. Das war in der Vergangenheit ein probates Mittel, um sich in den guten Zeiten einen Vorrats-Speck anzufressen und damit leichter den harten Winter zu überleben. In Zeiten des allgegenwärtigen Nahrungsmittel-Überflusses geraten wir allerdings in Widerstreit mit unseren Instinkten.
Enorme Zunahme beim Übergewicht
Beim Menschen geben aktuelle Studien Entwarnung: Moderates Übergewicht bedeutet - entgegen früher vertretenen Ansichten, kein höheres Risiko für Krankheit und frühzeitigen Tod, speziell wenn die Übergewichtigen körperlich aktiv sind. Erst bei starkem Übergewicht (ab einem BMI von 35) steigt dann das Risiko dramatisch an.

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USA: Ernährung gefährlicher als Rauchen

Doch gerade in dieser Gewichtsklasse sind die Zuwächse enorm. Speziell in den Vereinigten Staaten ist die Situation vollständig aus dem Ruder geraten. Binnen 20 Jahren stürzte die USA im Ranking der 34 reichsten Länder sowohl bei der Lebenserwartung als auch bei der Lebensqualität vom Mittelfeld steil ab und liegt nun in der Schlussgruppe.
 Das wesentlichste Resultat und die größte Überraschung der aktuellen Studie: Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte hat die Ernährung das Rauchen als wichtigster Risikofaktor für die Gesundheit überholt.
Im Ranking der Ernährungssünden ganz vorne findet sich der übermäßige Genuss von Weißmehl-Produkten und Zucker. Eine Leidenschaft, welche vollständig unheilbar scheint und allen Umerziehungsmaßnahmen und Appellen widersteht.
Wie schwierig es ist, hier Lebensstil-Änderungen durchzusetzen, zeigte erst kürzlich der Abbruch der ambitionierten Look Ahead"-Studie, wo versucht wurde, über Gewichtsreduktion eine gleichzeitige Verbesserung der Herzgesundheit zu erreichen. Nach zehn Jahren intensivster Schulungen mit regelmäßiger Lebensbegleitung und Expertenrat ergab sich bei Typ 2-Diabetikern in der Studiengruppe - im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne besondere Begleitung - ein mageres Minus von 2,5 Prozent beim Körpergewicht. „Ein Effekt auf die Vermeidung von Krankheiten war nicht erkennbar“, lautete das traurige Resüme der Autoren, welche gemeinsam mit ihrer Studie sehr viel Herzblut, Energie und Fördergelder zu Grabe trugen.
Pädagogisch noch so motivierte Lebensstil-Änderungen bei der Ernährung halten – wenn überhaupt – nur wenige Monate. Dann sind die gut gemeinten Diät-Vorschläge bei der Mehrzahl der Studienteilnehmer vergessen. Und wenn schon in den intensiv begleiteten wissenschaftlichen Studien nichts weiter geht, wie dann in der freien Wildbahn der Supermarkt-Verlockungen?
Süßen mit Maisstärke
Stecken die Amerikaner also vollständig in der Zuckerfalle? „Sicherlich wird zu viel gegessen und zu wenig Bewegung gemacht“, sagt Ingrid Kiefer, Sprecherin der AGES, der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit. „Doch davon abgesehen, haben die Amerikaner wahrscheinlich einen gewaltigen Fehler gemacht, als sie in den 1980er Jahren eine neue Art von Zucker massenhaft verbreitet haben: High Fructose Corn Sirup.“

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Billigsüße aus Überschuss-Mais

Dieser Zucker wird mit Hilfe von gentechnisch hergestellten Enzymen aus Maisstärke gewonnen, und enthält deutlich mehr Fruktose – also Fruchtzucker – als unser Haushaltszucker. 'High Fructose Corn Sirup' ist süßer und gleichzeitig auch viel billiger als das bisher vor allem aus Brasilien importierte Zuckerrohr. Binnen weniger Jahre kamen die Importe in die USA fast vollständig zum Erliegen.
Die US-Agrarindustrie jubelte über den neuen Markt für ihre Mais-Überschüsse.
 Dabei haben die Nahrungsmittel-Strategen allerdings eine Kleinigkeit übersehen, sagt Kiefer: „Fruktose wird vollständig anders verstoffwechselt als Glukose, der Traubenzucker.“
Wie markant dieser Unterschied ist, zeigen aktuelle Untersuchungen: Glukose hat unmittelbare Auswirkungen auf die Aktivität des Hypothalamus. „Dieser winzige Bereich in den tiefen Regionen des Gehirns wiegt nur 4 Gramm“, sagt Ewald Moser vom Magnetresonanz Zentrum der Meduni Wien, "aber es steuer 80 Prozent unserer Aktivitäten: Hunger, Durst oder Sex."
Moser hat Zugang zu modernsten bildgebenden Verfahren. „Mit unseren MR-Tomographen können wir – ohne invasiven Eingriffe oder radioaktive Kontrastmittel – die Aktivität wichtiger Gehirnareale live beobachten.“
Wenn die Probanden eine mit Zucker gesüßte Limo trinken, so sieht man gleich die Auswirkungen: Hypothalamus, Amygdala und andere wichtige Bereiche, welche in die Appetitregulierung involviert sind, zeigen einen höheren Sauerstoff-Verbrauch als Indiz für ihre Aktivität.
Gleichzeitig sorgt Zucker für einen deutlichen Anstieg des Hormons Insulin, das zusammen mit anderen Hormonen dem Gehirn ein Feedback zum aktuellen Blutzucker-Spiegel liefert. Das Appetit fördernde Hormon Ghrelin wird zurück reguliert.
Ganz anders hingegen sind die Auswirkungen von Fruktose. „Hier funktioniert der Stoffwechsel vollständig anders“, erklärt Moser. „Es hat nur geringe Auswirkungen auf den Insulin-Ausstoß, es schwächt den Anstieg der Sättigungshormone und lässt dem Appetitförderer Ghrelin freien Lauf.“ Während Glukose in den Körperzellen in Energie umgewandelt wird, ist für Fruktose die Leber zuständig und baut den Fruchtzucker bei Überangebot sofort in Fett um. „Dummerweise vor allem in das problematische LDL-Cholesterin.“
Ein Glas Saft entspricht einem Kilogramm Äpfel
Ingrid Kiefer zeigt mehrere Produkte aus dem Supermarkt, die mit Fruktose gesüßt werden, weil das lange Zeit als besonders gesund und ernährungstechnisch en vogue galt. „Besonders für Kinder wurde Fruktose empfohlen." Fruchtzucker ist auf vielen Produkten zugesetzt - dazu muss man allerdings oft das Kleingedruckte lesen.
Einen enormen Gehalt an Zucker hat der Saft vollreifer Früchte. Weil die Ballaststoffe in Apfel oder Orange zum Großteil in der Presse zurück bleiben, speziell bei gekauften Produkten, ist der Zucker aus dem Saft für den Organismus rascher verfügbar. Die wenigsten Menschen essen drei Orangen, oder vier Äpfel auf einmal. Doch ein Glas Apfel- oder Orangensaft, das ist vergleichsweise schnell runter gespült. „Die meisten Fruchtsäfte sind als Getränke wenig geeignet“, sagt Kiefer. "Das sind eigentlich keine Getränke, sondern hoch potente Energie-Infusionen. – Damit werden die Weichen in Richtung Übergewicht und Diabetes schon in der Kindheit gestellt.“ Kinder, so die Ernährungsexpertin, sollten Wasser trinken.
Zucker versus Saccharin, Aspartam & Co.

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Marketingschlacht um den Süßstoffmarkt


Zucker ist trotz all dieser Fakten jedoch keineswegs das Gift, als das es vielfach denunziert wurde. Fast unsere gesamte Nahrung wird am Ende in Blutzucker umgewandelt. „Es hat enorme Bedeutung für den Stoffwechsel“, sagt Moser. „Das Gehirn funktioniert beinahe ausschließlich auf Basis von Glukose. Experimente demonstrieren, dass ein fettes Frühstück zwar länger satt hält, doch Zucker kurbelt dafür die Konzentrations- und Gedächtnisleistung besser an.“
Trotz der unbestrittenen Bedeutung von Zucker für den Stoffwechsel des Menschen kam es immer wieder zu Phasen von herbem Zucker-Bashing. Einige dieser Attacken hatten eindeutig kommerzielle Hintergründe. Saccharin, der Pionier der künstlichen, kalorienfreien Süßstoffe war das erste Produkt, das der nunmehr für gentechnisch verändertes Saatgut und Knebelverträge für die Bauern berüchtigte Konzern Monsanto vermarktete.

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Aspartame-Scare im Web

Auch hinter Aspartam, einem Produkt der NutraSweet Company, steckt eine illustre Persönlichkeit. Der später als US-Verteidigungsminister im Kabinett von George W. Bush berühmt gewordene Donald Rumsfeld war es, der zu Beginn der 80er Jahre die Zulassung der umstrittenen Chemikalie betrieb, die rund 400 Mal süßer als Zucker ist. Durch geschicktes Lobbying erreichte er schließlich die Zulassung bei den US-Behörden. Doch Aspartam war nicht der einzige Bestseller, den Rumsfeld vermarktete. Bevor er in die Politik ging und als Georg Bushs Mann fürs Grobe im Irak-Krieg bekannt wurde, nahm er als Geschäftsführer und Aktionär des Pharmakonzerns Gilead die Entwicklung des Influenza-Medikamentes Tamiflu unter seine Fittiche. Der massenhafte Ankauf des umstrittenen Mittels im Zuge der Vogel- und Schweinegrippe Pandemie bescherte Rumsfeld private Millionengewinne. Und mit derselben Verve, mit der er Saddam Hussein verfolgte, zog Rumsfeld in den Achziger Jahren gegen Zucker in den Krieg. 
„Die Wissenschaftliche Bewertung dieser Light-Produkte Invasion fällt bis heute schwer“, sagt Ingrid Kiefer. „Denn es war eigentlich eine Marketing-Schlacht, wo von beiden Seiten mit grenzwertigen Mitteln so genannte Wissenschaft betrieben wurde.“ Auf der einen Seite galt Zucker als Teufelszeug und Killer, auf der anderen wurden die künstlichen Süßstoffe unter General-Krebsverdacht gestellt. Saccharin wurde in einigen Ländern sogar vom Markt genommen, weil es bei Laborratten in hohen Dosen Blasenkrebs ausgelöst hatte. Bis zum Jahr 2000 mussten damit gesüßte Produkte Warnhinweise tragen, bis sich der Verdacht mehr oder weniger in Luft auflöste.
„Krebs ist nicht das Problem dieser künstlichen Süßstoffe“, sagt Kiefer. „Deutlich problematischer sind sicherlich deren Auswirkungen auf den Stoffwechsel.“
Saccharin, Aspartam oder das aus dem südamerikanischen Honigkraut extrahierte, nichtkalorische Süßungsmittel Stevia sind 200 bis 500 Mal süßer als Zucker. „Sie täuschen den Geschmacksrezeptoren im Organismus vor, dass gleich eine Kalorienflut den Kreislauf überschwemmt – und dann kommt nichts.“ Was das für Auswirkungen hat, ist erst teilweise erforscht.
Derzeit wird gerade Aspartam von den EU-Behörden einem neuerlichen Sicherheits-Check unterzogen. Jürgen König ist als Experte mit im Team der Europäischen Agentur für Lebensmittelsicherheit. „Die Resultate werden im November veröffentlicht. Es gab einige Streitpunkte und es ist noch nicht entschieden, wie der Konsens aussehen wird.“
Fett durch Light Produkte?
Epidemiologische Langzeitstudien mit vielen tausend Teilnehmern zeigen meist keinen günstigen Einfluss von kalorienfreien Süßstoffen auf die Gewichtsreduktion. Meist weisen die Resultate sogar in die Gegenrichtung. Jene, die künstliche Süßstoffe verwendeten, nahmen schneller zu und litten häufiger an Übergewicht. „Nun stellt sich natürlich die Frage“, sagt die Wiener Ernährungsforscherin Ghazaleh Gouya, „ob diese Personen deshalb dick sind, weil sie künstliche Süßstoffe verwenden, oder ob sie künstliche Süßstoffe verwenden, weil sie dick sind.“ Einiges deutet darauf hin, dass der Light Zucker durchaus eine gewichtige Rolle spielen könnte. „Es zeigte sich nämlich, dass nicht nur übergewichtige, sondern auch normalgewichtige Personen, die Aspartam, Saccharin und Co. verwendeten, im Lauf der Jahre signifikant mehr Pfunde zunahmen, als Personen, die solche Produkte ablehnten.“
„Allein das Wissen, dass sie Light Produkte essen, reicht für manche Menschen scheinbar aus, um sich ein weiteres Stück Kuchen oder Gebäck zu gönnen“, berichtet Ingrid Kiefer. „Aus meiner langjährigen Beratungspraxis weiß ich, dass Menschen, die Light-Produkte essen und trinken, das häufig mit Extraportionen kompensieren. Entweder die kalorienfreie Süßstoffe fördern den Appetit oder sie liefern die Ausrede, mehr zu essen als man das bei normalem Zucker tun würde.“
Elisabeth Jäger ist Sprecherin der Selbsthilfegruppe Adipositas. Sie hat jahrelang mit schwerem Übergewicht gekämpft. Bei ihrer Ernährung achtete sie viele Jahre auf Zucker und verwendete ausschließlich kalorienfreien Ersatz. „Es ist halt schon so, dass der Geschmack süss für mich zur Lebensqualität gehört. Darauf möchte ich nicht verzichten, weil ich schon eher eine Süße bin.“
In den Kaffee kamen die Saccarin-Pillen, das Cola war zero und bei Eis oder Schokolade griff sie zu zuckerfreien Alternativ-Produkten. Der Erfolg stellte sich nicht ein. „Ich hatte dann so einen Leidensdruck, dass ich mich zu einer Operation mit Magenband entschlossen habe. Damit habe ich schließlich 60 Kilogramm abgenommen. Künstliche Süßstoffe hätten nie diesen Effekt gehabt.“
Psychische Faktoren spielen bei Übergewicht eine enorme Rolle. „Hier wird von Kindheit an ein Suchtverhalten eingelernt, das die Erwachsenen dann nicht mehr wirklich beherrschen“, erklärt Gouya. „Ein Mensch, der zu Fressanfällen neigt, ist wie ein Süchtiger auf Entzug, wenn sie ihm den Stoff wegnehmen. Der wird sehr gereizt und ist Vernunft-Argumenten kaum zugänglich.“
Zu diesem Thema habe ich eine Ausgabe des Wissenschafts-Magazins "Newton" gestaltet (Ausstrahlung: ORF 1, Samstag, 14. 9., 18,40 Uhr, Wiederholung: 17. 9., 12,35 Uhr). Bis zum 21. 9. 2013 kann man die Sendung in der TV-Thek des ORF sehen. 

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