Suchen sich Geschwisterkinder ihre Nischen?

Bekanntlich sind meine Kinder sehr verschieden, in fast allen Aspekten. Ich finde das einerseits herausfordernd, weil man mit beiden sehr unterschiedlich umgehen muss und sie keine unproblematische, harmonische Beziehung miteinander haben. Aber es ist auch toll, bereichernd, entlastend und sehr spannend. Ich vergleiche sie gern, nicht um sie zu bewerten oder auszuspielen, sondern ich beobachte einfach gern ihre Charaktere und ihre sehr unterschiedliche Entwicklung. Wenn ich darüber erzähle, sei es mündlich oder schriftlich, tritt oft die Auffassung zutage, dass Geschwister verschiedene Rollen einnehmen würden, je nachdem, welche Nische in einer Familie schon besetzt sei. So sei deswegen beispielsweise die Kleine überwiegend fröhlich, quirlig, kuschelig, mutig, risikobereit, selbstständig etc., weil der Große all dies eben nicht ist und diese Rolle in unserer Familie noch nicht besetzt gewesen sei. Deshalb habe sie sich ihre Nische gesucht und würde diese nun ausfüllen. Die Charakterzüge, die der Große nicht verkörpert, hätte sie sich sozusagen zueigen gemacht und diese charakterisieren sie nun. Zugegebenermaßen klingt diese These gerade bei so unterschiedlichen Geschwisterkindern sehr plausibel und ich will sie auch nicht komplett bestreiten. Allerdings glaube ich grundsätzlich nicht daran, dass der Charakter von Kindern sich lediglich aus sozialen Rollen und dem Einfluss der Umgebung konstruiert, sondern ich bin absolut überzeugt davon, dass Kinder mit einem ziemlich umfangreichen Grundgerüst von Anlagen zur Welt kommen und sich diese nur bedingt beeinflussen lassen, weder durch die Eltern noch andere äußere Umstände.
Suchen sich Geschwisterkinder ihre Nischen?Bildquelle: Pixabay
Die immer wieder gern kolportierte These mit den verschiedenen Rollen lässt einige Punkte im Unklaren. Die Frage, woran das erste Kind, der Große, sich denn seinerzeit orientiert habe, wird z.B. nicht beantwortet. Ja, solch eine Theorie impliziert, dass das erste Kind einer Familie mit festen Anlagen, einem geformten Charakter zur Welt gekommen ist, die es dann ausfüllt, alle weiteren Kinder jedoch nur noch ihre Nischen suchen, d.h. keine originäre Prägung haben. Laut dem amerikanischen Psychologen Frank Sulloway orientieren sich die Erstgeborenen gar an den Eltern, weil noch kein Geschwisterkind vorhanden ist. Weiterhin erklärt die These nicht das Vorkommen sehr ähnlicher Geschwisterkinder, die es tatsächlich gibt, bis hin zu einer ähnlichen Gestik und Mimik. Dies würde dann wahrscheinlich so begründet, dass sie sich unbewusst gegenseitig nachahmen. Also das genaue Gegenteil der These mit den verschiedenen Rollen. Oder Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Man kann sich dann das herauspicken, was in dem einen oder anderen Fall gilt. Nicht sehr befriedigend sind solche Auffassungen.
Aber bleiben wir mal bei der These. Der Große wäre demnach also mit seinen festgelegten Wesenszügen auf die Welt gekommen: zurückhaltend, introvertiert, unkuschelig, reizoffen, hochsensibel, autonom, unzufrieden, ehrgeizig, perfektionistisch, vorsichtig, beobachtend, risikovermeidend, reaktionslangsam, veränderungsabgeneigt etc. Die Zweitgeborene, die Kleine, hätte dies nun gesehen, intuitiv gespürt oder im Laufe der Jahre mitbekommen und sich daraufhin die von ihm noch nicht besetzten Nischen gesucht. Deshalb ist sie eher extrovertiert, kuschelig, kooperativ, wandelbar, schnell, einfallsreich, risikobereit, fröhlich, lustig, musikalisch, nicht hochsensibel etc. Das hieße (nach dieser Theorie) im Hinblick auf diese Charakterzüge, dass sie entweder schon im Mutterleib bewusst anders als ihr Bruder geworden ist (wie hat sie das gemacht?) oder dass sie in den Aspekten, in denen sie ihm vielleicht ursprünglich sogar ähnlich war, sich selbst absichtlich zum Gegenteil hin entwickelt hat, weil der Bruder eben so schon ist. Ich glaube das nicht.
Sicher übernimmt sie eher mal die mutige Rolle, wenn der Große zögerlich ist, aber doch deshalb, weil sie von Grund auf unbedarfter, wagemutiger, risikofreudiger ist, weil sie nicht soviel nachdenkt, sondern agiert. Ist sie kuschelig, körperbetont und anschmiegsam, weil der Große das alles nicht ist? Nein, sondern weil ihre Bedürfnisse anders sind und schon von Anfang an anders waren. Ist sie generell (zur Zeit eher nicht) ein kooperatives, auf Harmonie und Zusammenhalt bedachtes Kind, weil der Große nicht so ist? Nein, ihre Veranlagung ist eben so. Ist sie musikalisch, weil der Große es eher nicht ist? Nein, sie hat einfach Musik im Blut. Ist sie ein kleiner Clown, weil der Große sehr ernsthaft ist? Nein, sie ist lustig und übermütig. Und ist sie nach meiner jetzigen Einschätzung nicht hochsensibel, weil der Große es vermutlich ist und sie das Gegenteil besetzen will? Ich glaube kaum, dass man eine so charakteristische Eigenschaft zurückfahren könnte, nur weil das Geschwisterkind sie schon aufweist.
Warum sind dagegen BEIDE Kinder sehr lärmempfindlich, relativ wehleidig, sehr trennungsängstlich, um nur einige Beispiele zu nennen? In den übereinstimmenden Eigenschaften ist ja anscheinend keine Nische besetzt worden, sondern jedes Kind ist eben genau so, wie es von Natur aus ist. Wenn das das Gegenteil des Geschwisterkindes ist, dann wegen der unterschiedlichen Verteilung der biologischen Erbanlagen, sprich der charakterlichen Veranlagung. Sicherlich haben soziale Faktoren wie die Geschwisterposition (Erstgeborener, Sandwichkind, Nesthäkchen), die Familiensituation und überhaupt das Umfeld gewisse Einflüsse darauf, wie stark sich schon existierende Wesenszüge ausprägen oder nicht. Das bestreite ich überhaupt nicht. Bestreiten möchte ich aber die These, Kinder würden verschiedene Rollen einnehmen, nicht weil ihr Charakter so ist, sondern weil sie Nischen suchen und besetzen würden. Das hieße, das zweite Kind wird kein Schreibaby, wenn und weil das erste eines war, oder umgekehrt. Das hieße, es würde keine zwei musikalischen oder künstlerischen Kinder in einer Familie geben. Das hieße, Geschwister wären IMMER völlig unterschiedlich. Dem ist ja nicht so, genauso wenig, wie das erste Kind immer vernünftig und angepasst und das letzte Kind immer das "verwöhnte Nesthäkchen" ist. Ich denke, wir alle kennen Beispiele dafür und dagegen.
Das Besetzen von Nischen diene vor allem dazu, allzu starke Konkurrenz unter Geschwistern zu vermeiden und die begrenzten Ressourcen elterlicher Zuwendung gerecht zu verteilen. Auch dies kann ich aus meiner Erfahrung nicht bestätigen. Meine Kinder konkurrieren trotz ihrer Verschiedenheit sehr heftig um unsere Aufmerksamkeit. Man hat oft nicht den Eindruck, dass sie sich trotz ihrer angeblich verschiedenen Rollen genügend wahrgenommen fühlen. Möglicherweise wäre die Geschwistersituation bei uns sogar entspannter, wenn sie sich ähnlicher wären. Die Geschwisterforschung kommt bisher zu sehr gegensätzlichen Ergebnissen, was die These der Nischen betrifft. Ich denke, jeder, der mehrere Kinder hat, wird seine eigenen Erfahrungen machen. Und obwohl die These, bezogen auf meine Kinder, erstmal plausibel klingt, glaube ich nicht daran, dass sich die Kleine ihre Nischen gesucht hat und deshalb so anders als der Große geworden ist. Denn sie war vom ersten Tag ihres Lebens an anders als er. Sie sucht sich keine Nischen, sondern hat genauso ihren eigenen Charakter, ihre Veranlagung wie der Große. Sie auf eine Nischenbesetzerin zu reduzieren, wird ihr in keinster Weise gerecht. Sie ist der Gegenpart des Großen, ja, aber als eigenes originäres Wesen, nicht als sozial geprägtes Konstrukt. Ich denke, solch eine Auffassung wird keinem Menschen gerecht. Ich jedenfalls möchte mich (das Beispiel hinkt, da ich die Erstgeborene bin) nicht darauf reduzieren lassen, dass mein Charakter so ist, wie er ist, weil der meines Bruders anders war. Ihr?
Was denkt ihr zu dem Thema, welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Kennt ihr sehr unterschiedliche oder auch ähnliche Geschwisterkonstellationen? Wie war das bei euch in der Herkunftsfamilie und wie ist es mit euren Kindern? Was hat eurer Meinung nach mehr Einfluss, die biologischen Anlagen oder soziale Einflüsse?

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