Es gibt Bekannte aus Berlin, die wundern sich bei jedem Besuch in Stuttgart über die Hektik in der Stadtmitte. “Ich weiß nicht, die Leute hetzen hier so” raunen sie und sinken schon vom Zuschauen ermattet in den Korbsessel des Straßencafés. Das ist halt die typisch schwäbisch-fleißige Betriebsamkeit, bin ich geneigt zu sagen, obwohl ich mir selbst schon lange nicht mehr sicher bin, ob dieses Gerenne und zunehmende Geschubse noch normal ist.
Die Refugien teilen sich in die vier Kapitel, “Grüngut”, “Höhenluft”, “Spurensuche” und “Alltagsfreuden” und – mal abgesehen von ursprünglichen, naturnahen Orten wie Bärenseen und Heslacher Wasserfälle – ist auffallend, dass fast alle stillen Ecken sowas wie Relikte längst vergangener Zeiten sind.
Angefangen beim Chinesischen Garten, der 1993 für die IGA gebaut und 1996 in die Birkenwaldstraße umgesiedelt wurde, übers gänzlich unmoderne Zoologische und Tiermedizinische Museum in Hohenheim, den scheußlich-schönen Bismarckturm, das “Hexenhäuschen” auf der Gänsheide, den Monte Scherbelino mit seinem Kriegsschutt-Kern bis zur Veitskappelle in Mühlhausen, die Gedenkstätte “Zeichen der Erinnerung” oder zwei Friedhöfen, die ein bisschen Park-Ersatz spielen.
Ja gut, ein paar moderne Rückzugsorte sind auch dabei, vorne dran die neue Stadtbibliothek oder Micha Ullmanns Installation “Schüssel” auf dem Vaihinger Campus oder das neu gestaltete Gerberplätzle im gleichnamigen Viertel. Doch an den meisten vorgestellten Beruhigungsplätzen weht ein Hauch von guter alter Zeit, den man in Zeiten von Payback-Karten und Shareholder Value kaum mehr spürt, weil Zeit halt bekanntlich Geld ist und Müßiggang – grade um Stuttgart rum – als wenig sinnvoll oder gar gewinnbringend gilt. Und so taktet man sich ein in moderne Zeiten, bis einen die to go-Welle gänzlich mitzureißen droht und man irgendwann japsend nach Luft schnappt. Spätestens dann wirds Zeit für eine oder zwei der stillen Ecken.
Auch falls man seine eigenen stillen Ecken längst gefunden hat, ist Adrienne Brauns Buch ein inspirierendes Vergnügen. Und wer weiß, wenn das Lieblingsbänkle am Waldrand beim nächsten Besuch völig überbevölkert sein sollte, fällt dem einen oder anderen Leser villeicht eine der Alternativen ein. Denn: sofort losrennen, schauen und hören obs an den erlesenen stillen Ecken auch wirklich ruhig ist, wäre ziemlich kontraproduktiv und nicht nur die Autorin müsste sich innerhalb kürzester Zeit neue Besinnungsorte suchen. Obwohl…wenn sie die dann auch wieder so zauberhaft humorvoll, eloquent und lebendig beschreibt, kanns mir eigentlich fast recht sein, falls er hier demnächst ausbricht, der angestiftete Ruhe-Tourismus…
Adrienne Braun “Mittendrin und außen vor: Stuttgarts stille Ecken”, 92 Seiten, gebunden, 19 Euro, Südverlag