Ja, es stimmt: Stuttgart boomt! Vor einigen Jahren folgte aufs Outing “Ich bin aus Stuttgart” meistens feixendes Gelächter: “Let’s putz”-Aktionen und hochgeklappte Bürgersteige am Abend hatten das Image der Stadt gründlich ruiniert. Jetzt kommt immer öfter ein interessiertes “Echt? Erzähl mal!”. Innen- und Außenwirkung der Landeshauptstadt haben sich rasant geändert, das liegt auch, aber nicht nur an “der Sache mit Stuttgart 21″. Die Kreativ-Wirtschaft arbeitet mittlerweile auf Augenhöhe mit der Automobilbranche, die (sub)kulturelle Landschaft blüht und gedeiht und es ist eine alte Erkenntnis: wo sich Künstler wohl fühlen, leben auch andere Menschen gern.
Gute Zeit also, dem neu erwachten Interesse an Stuttgart Futter zu geben, denn das viel zitierte Stuttgarter Understatement ist sicher löblich, aber alles andere als eine wirksame Image-Kampagne. Was also bleibt Touristen, Neu- und Wutbürgern, interessierten Viertelesschlotzern, Mercedesfahrern, Landeiern oder Pendlern, die die Stadt zwischen Neckar und Reben näher kennen lernen wollen? Zum Beispiel lebendige Stadtführungen mit verschiedensten thematischen Schwerpunkten oder hübsche Stuttgart-Bücher, die derzeit zahlreich aus den Druckmaschinen purzeln. Mit knapp zwei Kilo und rund 340 Seiten ist “Stuttgart! Das Buch” sicher die “gewichtigste” Neuerscheinung im überfälligen Reigen der Stuttgart-Publikationen. Gleichzeitig dürfte es im Moment die umfassendste und aktuellste prosaisch-journalistisch-statistische Bestandsaufnahme der Landeshauptstadt sein.
Den Anfang macht Stuttgarts Historie: auf knapp 50 Seiten entfaltet sich die Stadtgeschichte “Vom idyllischen Wiesengrund zur modernen Großstadt” und auf Seite 48 startet Heinrich Steinfest seinen 24-Stunden-Spaziergang quer durch die Stadt. “Der Österreicher Heinrich Steinfest wurde in Australien geboren, wuchs aber in Wien auf. Bis Ende der 1990er Jahre lebte er dort als freischaffender Künstler. Heute lebt er als Maler und Schriftsteller überwiegend in Stuttgart” weiß Wikipedia und für “Stuttgart! Das Buch” schlendert der Autor einen ganzen Tag lang mit wachem Geist und offenen Augen über Stäffele und Plätze, in Museen und Bibliotheken, vorbei an architektonischen Besonderheiten und Stuttgarter Eigenheiten, also quer durchs ganze Buch!
Während die Autorenkollegen Harald Schukraft, Anja Wasserbäch, Thomas Borgmann, Marc Hirschfell, Astrid Schlupp-Melchinger, Jürgen Löhle und Tim Schleider – je nach Fachgebiet – gut recherchierte Infos und spannende Anekdoten unterhaltsam aufbereiten, ist Heinrich Steinfest vor allem für die philosophische Stadtbetrachtung zuständig.
Von Anja Wasserbäch stammt das zweite Kapitel: “Der Sound von Stuggi-Buggi-Benztown” und die Platzierung im Buch zeigt, dass sich Stuttgarts Schwerpunkte Image-Schwerpunkte verschoben haben. Die Fantastischen Vier, die Massiven Töne, Max Herre oder Cro sind längst über die Stadtgrenze hinaus bekannt und prägen die deutsche Musiklandschaft mit. Auch die ganz großen des Musik-Biz kommen gern nach Stuttgart: Beth Ditto trällerte im Schocken, B.B. King spielte bei den Jazzopen, Beach Boys, R.E.M., Udo Jürgens, Guns’n'Roses, Bon Jovi und viele mehr konzertierten ebenfalls auf einer der zahlreichen Bühnen im Kessel. Im Mix mit der lebendigen regionalen Musikszene ein musikalisches Angebot, von dem manch andere Großstadt bestenfalls träumen kann.
Weiter gehts mit Thomas Borgmanns Kapitel übers Rathaus und seine Protagonisten: “Arnulf Klett, Manfred Rommel, Wolfgang Schuster …diese drei Oberbürgermeister – getragen oder gebremst, von wechselnden politischen Mehrheiten im Gemeinderat – haben, jeder für sich, ihren Anteil daran, dass Stuttgart heute die wohl am meisten unterschätzte Großstadt ist”, stellt der Autor ambivalent fest. Als kluger Kopf in schwieriger Zeit portraitiert Borgmann Ex-OB Manfred Rommel, Wolfgang Schuster ist sein tragischer Held, nicht zuletzt der verhängnisvollen Ohrfeige wegen, die Schuster seinem langjährigen Weggefährten Joachim Pfeiffer verpasste. Warum steht natürlich im Buch. Und nun sitzt mit Fritz Kuhn der erste “grüne” OB einer Landeshauptstadt im “Regierungsbüro” am Marktplatz.
“Stuttgart ist einfach anders” konstatiert Marc Hirschfell im Kapitel “Architektur”: vor allem Stuttgarts Kessel-Topografie macht die architektonische Ausgangslage besonders. Mit dem ersten Fernsehturm der Welt, der Weissenhofsiedlung, dem Bonatzbau, der Musikhochschule, der Staatsgalerie oder mit dem spektakulären Haus “R128″ von Werner Sobeck, besitzt Stuttgart auf jeden Fall einige Glanzstücke der Architekturgeschichte, andere städtebauliche Errungenschaften werden dagegen – vor allem von Stuttgartern selbst – eher ablehnend bewertet.
Selbstverständlich darf ein Kapitel über die Wirtschaft nicht fehlen. Diesen Part übernimmt Astrid Schlupp-Melchinger, die als Autorin auf schwäbische Erfolgsgeschichten abonniert ist. Schloss Hohenheim findet hier ebenso Erwähnung wie Hafen und Flughafen, die Stuttgarter Börse – immerhin die zweitgrößte Deutschlands – bekommt einige Zeilen sowie Bosch, Benz, Daimler, Behr und Mahle sowie Stihl, Trumpf, Hansa, Bleyle, Schwaben Bräu oder Frigeo – Namen und Marken, ohne die Stuttgarts Unternehmensgeschichte nicht geschrieben werden kann und die in der ganzen Welt einen guten Ruf genießen.
Jürgen Löhle stellt dem Leser schließlich Deutschlands heimliche Sportstadt vor, denn auch wenn Stuttgarts Olympia-Bewerbung zum Alptraum wurde, finden hier regelmäßig bedeutende internationale Wettkämpfe statt, zum Beispiel das Sechs-Tage-Rennen, der Mercedes-Cup auf dem Weissenhof und die La-Ola-Welle schwappte angeblich aus einem Stuttgarter Stadion über den ganzen Globus.
Und während Heinrich Steinfest seinen 24-Stunden-Spaziergang mit einem euphorischen Blick über die erwachende Stadt beendet, kommt auch Tim Schleider zum guten Ende des Buchs: er präsentiert Stuttgart als Metropole von Kunst und Kultur, mit großem Theater, Weltmusik und Weltliteratur, mit einer Kunstmeile voll bedeutender Kunstsammlungen und nicht zuletzt den hippen, subkulturellen Schmelztiegel, der auf städtischen Brachen und in Off-Locations brodelt.
“Stuttgart! Das Buch” ist spannender Lesestoff sowie illustrer Rundgang durchs Stuttgart von gestern, heute und morgen, mit Geschichten, die zum einen zahlreiche Facetten der Landeshauptstadt zum Funkeln bringen, zum anderen auch dunkle Ecken beleuchtet und ganz klar Lust auf mehr machen!
“Stuttgart! Das Buch”, 343 Seiten, Hardcover mit Umschlag, 39 Euro 95, Theiss Verlag