Stuttgart 21: Das Klima ist vergiftet

Von Stscherer

Man fragt sich, warum gerade diejenigen, die sich sonst immer auf die demokratischen Spielregeln berufen, plötzlich nicht mehr wahrhaben wollen, dass diese auch für andere gelten; Proteste gegen politische Entscheidungen sind nun einmal ein wichtiger Teil der Demokratie, und dies hat überhaupt nichts damit zu tun, wann und mit welchen Mehrheiten diese Entscheidungen in der Vergangenheit getroffen worden sind. Nicht nur die in einem demokratischen Prozess Unterlegenen müssen eine Mehrheitsentscheidung akzeptieren, auch die heutigen Gewinner einer solchen Entscheidung müssen mit der Fortsetzung von Protesten gegen ihre Position und sogar mit einer Veränderung der Mehrheitsverhältnisse in der Gegenwart oder der Zukunft leben. Aber gerade solche Projekte wie Stuttgart 21 sind ein Gradmesser, wie weit diese demokratischen Spielregeln nicht nur bei den Bürgern, sondern eben auch bei den Politikern und den Wirtschaftsbossen verinnerlicht worden sind.

Torsten Henke kommentiert unter dem Stichwort „Stuttgart 21: Das Klima ist vergiftet“ das derzeitige Verhalten der „Entscheider“ wie folgt

THEMA: PROTESTE GEGEN STUTTGART 21
Demokratie-Unverständnis
VON TORSTEN HENKE

Dass ein Topmanager wie Rüdiger Grube als Chef eines Quasi-Staatsbetriebs ein bedenkliches Demokratieverständnis an den Tag legt und den Stuttgart-21-Gegnern ihr Demonstrationsrecht abspricht, stimmt schon nachdenklich. Noch schlimmer aber ist, das höchste Repräsentanten des Staates, Verkehrsminister Peter Ramsauer etwa, in dasselbe Horn tuten. Oder der Stuttgarter Justizminister Ulrich Goll mit seinem abwegigen Gerede, die Gegner des Projekts seinen „sehr unduldsam und wohlstandsverwöhnt“. Jene, die Dialogbereitschaft fordern, vergiften so das Klima noch mehr.

Es stimmt, die Genehmigungen für Stuttgart 21 sind in einem langjährigen demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren zustande gekommen. Haben die Bürger sie deshalb rundum zu akzeptieren? Das hätten die Bahnhofsbauer gerne, doch sie irren. Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht. Selbst wenn Parlamente längst gesprochen haben. Sie selbst könnten auch im Lichte neuer Erkenntnisse ihre Entscheidungen infrage stellen und revidieren. Im Falle von Stuttgart könnte das die Tatsache sein, dass Bahnhof und Neubaustrecke, wie immer, wenn die öffentliche Hand Steuergeld verbuddelt, viel teurer werden als angenommen, und dass es der Allgemeinheit nicht zuzumuten ist, auf andere Bahnprojekte zu verzichten, um den Prestigebau im Ländle mitzufinanzieren.

Es wäre keine Schwäche, sondern Stärke, wenn Politik so entscheiden würde. Und es wäre ein Signal: Es muss Schluss damit sein, dass zunächst schöngerechnet wird, und die wahren Kosten erst auf den Tisch kommen, wenn es kein Zurück mehr gibt. Doch zu einem so mutigen Signal ist die Politik nicht bereit und zaubert den guten, alten Heiner Geißler aus Vermittler aus dem Hut. Wie originell.“ (Klick)

Das ist einer der Kernpunkte: Es handelt sich bei der politischen Meinungsbildung um einen politischen Prozess, also um etwas, das sich weiterentwickelt – nur, Dynamik scheinen Politiker und Leiter von Konzernen immer nur dann zu mögen, wenn diese zu Ihren Gunsten wirkt, wenn aber das „Momentum“ sich gegen sie und ihre Entscheidungen wendet, dann plötzlich ist es nicht mehr gewollt und man besinnt sich zurück auf das Entschiedene, Statische.

Es wäre nicht zu spät, das gesamte Projekt Stuttgart 21 noch einmal kritisch zu hinterfragen, die tatsächlichen Kosten neu zu bewerten und die Kosten-Nutzen-Relation erneut zu bewerten; und dies hätte tatsächlich einmal etwas Neues, denn Stuttgart 21 steht für viele Projekte, die sicherlich einmal in guter Absicht geplant wurden, dann aber im monströser und verschwenderischer wurden und dabei eine Eigendynamik entwickelt haben, die man bei gesundem Menschenverstand nur durch einen Stopp wieder beherrschbar machen kann.

In diesem Zusammenhang sollte man den Bürgern aller gesellschaftlichen Schichten – die sich jetzt in Stuttgart als Demonstranten auf den Strassen bunt durcheinandergewürfelt bewundern lassen – nicht für allzu dumm halten: es braucht nicht allein einen – durchaus respektablen – Vermittler, sondern es bedarf eines Vermittlungskonzepts, und dies kann nur durch eine sachliche Bestandsaufnahme des derzeitigen Status Quo vorbereitet werden; dann wird man sehen, wo man steht, und dann wird man (unter der Vermittlung von wem auch immer) ergebnisoffen den weiteren Weg diskutieren müssen.

Man kann nur hoffen, dass die Umweltministerin Gönner (Klick) in diesem Zusammenhang nicht lediglich versucht, mit Taschenspielertricks vermeintliche Ruhe zu schaffen, wenn sie medienwirksam im TV verkündet, der Südflügel des Bahnhofs werde zunächst nicht abgerissen und die Bäumfallaktion im Schlossgarten werde zunächst beendet. Sie sollte es ernst nehmen, denn die Bürger dort in Stuttgart meinen es anscheinend ebenfalls ernst mit ihrem Protest.

Natürlich kann man sich fragen, warum nun gerade dieses Bahnhofsprojekt, warum nicht Gorleben, die vom BVerfG geforderte und politisch trotzdem verweigerte Hartz-IV-Erhöhung, die kostenmässig völlig ausufernde Elbphilhamonie oder, oder, oder. Sicherlich, bundesweit gibt es eine Reihe von Vorhaben, die ähnlich – oder vielleicht sogar noch besser – geeignet wären, um den Protest der Bürger auszulösen; aber in Stuttgart handelt es sich eben um einen Bauvorhaben, das eine Diskussion nicht nur bei einem bestimmten Teil der Bevölkerung auslöst, sondern inzwischen Kritiker und Befürworter in allen gesellschaftlichen Kreisen hat. Oder die Arroganz der dortigen politischen und wirtschaftlichen Elite war eben so besonders gross, dass selbst sonst eher nicht an Demonstrationen teilnehmende Gruppen jetzt ihren Widerstand gegen diese Entscheidungen deutlich machen wollen – Letzteres wäre natürlich besonders besorgniserregend, weil dies einen tiefen Abgrund zwischen den politisch Handelnden und den Bürgern deutlich machen würde.