Das Kind in mir schreibt, um seine Ängste loszuwerden. Nachts, wenn es draußen stürmt, setzt es sich an den Schreibtisch, nimmt einen Stift – und verwandelt sich zum Werwolf. Auf dem Papier beginnt es, Amok zu laufen. Zu schlachten. Keine Gefangenen mehr zu nehmen. Niemand – wirklich niemand! – ist vor ihm sicher. Wenn das Kind schreibt, ist die ganze Welt ihr Jagdgrund.
Ich erinnere mich an meine Lehrerin, wie ich damals vor ihr auf dem Stuhl saß. Meine Beine baumelten ungeduldig herum. Der Mond strahlte wie ein Scheinwerfer in das staubige Klassenzimmer. Der Geruch der vergammelnden Bücher in den Regalen, erstickte mein jungfräuliches Gehirn. Keines davon hatte ich geschrieben. Keines trug meinen Namen.
Die Lehrerin hielt einen Vortrag über das Diktat. Sie tippte mit dem Rotstift auf mein Heft und ließ dabei ihre Absätze zum Takt eines unsichtbaren Metronoms klacken. Falsche Zeichen, sagte sie, vergessene Punkte. Ich erntete eine Klaps mit dem Zollstock, als ich mit den Augen rollte. Insgeheim dachte ich mir meinen Teil. Im Angesicht des Mondes malte ich mir aus, was um Mitternacht mit ihr geschehen würde.
Auf dem Heimweg hört sie Äste im Gebüsch knacken. Vor ihr erstreckt sich der Parkplatz, ein asphaltiertes Niemandsland, auf dem ihr kleines Auto wartet. Bäume rascheln. Das Gras wiegt sich in der Nachtluft. Eine Eule prophezeit Unheil – und ich spitze meinen Bleistift.
Aus der Dunkelheit zwischen dem Geäst bewegt sich ein Schatten. Entsetzt erblickt die Lehrerin einen haarigen Arm; einen Pelz, der in einer Pranke endet. Zähne blitzen in der Dunkelheit auf. Gieriger Speichel tropft von den Lefzen einer Hundeschnauze. Das Tier raunt nach frischem Fleisch.
Die Krallen des Monsters kratzen auf dem Asphalt. Jeder Schritt ihrer Tatze verursacht ein klackerndes Echo. Der Lehrerin gefriert das Blut in den Adern. Eiswasser pumpt durch ihre Schläfen. Die Angst pocht hinter ihrer Stirn, durchströmt ihren Blick.
Und ich lächle. In den Wolken sieht man diabolisch meinen Mundwinkel zucken.
Das bösartige Genie macht sich auf zur Vernichtung. Wie eine Puppe lasse ich die Bestie tanzen, sie die Zähne blecken. Ich lächele. Lächele, und bereite mich vor, den letzten Schlag zu tun.
Ich muss nur kurz meinen Bleistift spitzen.
Die Lehrerin, die alte bebrillte Hexe, nutzt meine Unaufmerksamkeit. Sie ist ein Nazi im Dienste des Teufels. Unter ihrem Mantel blitzt eine Uniform auf; sie trägt das Totenkopfsymbol auf ihrer Brust – die Sturmbannführerin des Diktatregiments.
Die Bestie wartet auf Anweisungen, schaut panisch zu den Wolken – da sieht man es seitens der Lehrerin blitzen. Aus der Aktentasche zückt sie eine Klinge. Alles geht so schnell.
Ein Jaulen hallt durch die Nachbarschaft. In den Häusern an der Straße springen die Nachbarn auf, verkriechen sich zitternd unter ihren Decken. Mit vor Angst geweiteten Augen bekreuzigen sie sich. Es ist wieder passiert.
Das Fell der Bestie stellt sich auf. Roter Matsch tropft aus dem Loch, wo der Säbel der Sturmbannführerin in ihr Fleisch gebohrt hat. Da, wo eben noch der Speichel von ihren Zähnen tropfte, qullit nun Blut aus ihrer Schnauze. Sie ist tödlich getroffen.
„Warum hast du das getan?“ röchelt die Bestie zwischen ihren Hauern hervor. „Warum tust du das?“
Die Lehrerin lächelt. In ihren runden Brillengläsern spiegelt sich das Mondlicht.
„Ich muss tun, was ich tun muss“, haucht sie voller Verachtung. „Kreaturen wie du dürfen nicht existieren. Nicht hier. Und jetzt stirbt“, fügt sie hinzu – und dreht grinsend die Klinge um.
Ich sacke auf meinem Stuhl zusammen. Mein Kopf knallt auf den Schreibtisch. Neben mir fällt der Bleistift auf das kalte Parkett – zerbrochen, in der Mitte geteilt.
Meine verkrampften Finger haben ihn zertrennt. Ich zittere.
Aus den Schatten meines Zimmers tritt eine Gestalt. Sie ist haarig; auf ihren spitzen Zähnen glitzert der Vollmond. Sanft berührt ihre Tatze meine Schulter.
„Mach dir nichts draus“, grollt die Bestie mitfühlend. „Beim nächsten Mal vielleicht.“
Ich schluchze. „Meinst du wirklich?“
„Ganz bestimmt.“
Die Bestie klopft mir auf die Schulter. Ich wische mir die Tränen aus den Augen. Gemeinsam schauen wir zu, wie vor dem Fenster der Mond hinter den Wolken vorbeizieht.
Das Kind in mir schreibt, um seine Ängste loszuwerden. Doch zwischen ihnen und dem Exil steht die Sturmbannführerin des Diktatregiments – und wartet.