Stress lass nach

In Zeiten von Globalisierung, Unsicherheit und Rationalisierung bleibt es nicht aus, dass die Menschen unter dem zunehmenden Druck von allen Seiten leiden. Burnout und Depressionen sind keine Modekrankheiten, Psycho-Stress im Job ist ein Alltagsphänomen. Nicht nur Gewerkschaften, Krankenkassen, Sozialdienste oder Mediziner warnen, selbst die Politik sieht inzwischen Handlungsbedarf, allerdings auf ihre Weise: Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen berief Ende Januar einen Anti-Stress-Gipfel ein. Der wurde aber – wenig überraschend – von den Arbeitgebern abgesägt.

Wobei die Marschrichtung eh klar ist: An der Tatsache, dass sich Arbeit lohnen muss, wird sich auch nach weiteren Gipfelbemühungen nichts ändern, vor allem aber nicht an der Tatsache, dass die Leute gefälligst arbeiten sollen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dass sich viele Geschäftsmodelle für die jeweiligen Unternehmen nur lohnen, wenn ihre Angestellten für extrem wenig Geld extrem viel leisten, dürfte inzwischen bekannt sein. Derzeit regt sich “ganz Deutschland” über die Zustände beim Online-Versandhändler Amazon auf, aber das ist nur die Spitze eines Eisbergs. Der Journalist Günter Wallraff hat bereits Mitte der 60er Jahre erste Reportagen veröffentlicht, in denen er seine Erfahrungen in deutschen Betrieben schilderte – früher war nämlich keineswegs alles besser. Die haarsträubenden Erlebnisse als vermeintlicher türkischer Gastarbeiter veröffentlichte Wallraff 1983 in seinem Buch Ganz unten.

Für Aufregung und Empörung sorgten auch Wallraffs Undercover-Reportagen in einem Callcenter, das Leuten Lotto-Abos andreht (Bei Anruf Abzocke) und in einer Backfabrik, die den Discounter Lidl beliefert (Unser täglich Brötchen). Auch über Lohndumping beim Logistikdienstleister GLS berichtete Wallraff bereits im Mai vergangenen Jahres, die Beschäftigten dort mussten als Scheinselbstständige getarnt bis zu 14 Stunden täglich arbeiten.

Insofern verwundert mich die Aufregung über Amazon jetzt schon ein bisschen – derartige Zustände gibt es in vielen Unternehmen und die sind bereits seit Jahren bekannt – ohne dass sich daran irgendetwas ändern würde. Wenn ein Betrieb es zu schlimm treibt, dann kann es schon passieren, dass er entweder gleich dicht gemacht wird oder pleitegeht. Was auch wieder blöd für die Leute ist, die dann keinen Job mehr haben. Die können am Ende froh sein, wenn der nächste Ausbeuterbetrieb sie nicht zu noch mieseren Bedingungen einstellt. Oder sie landen auf Hartz IV, was bekanntlich auch keine Erlösung ist – interessanterweise leiden die Arbeitslosen erst recht unter Depressionen, weil sie keiner mehr braucht und man ihnen das auch ständig unter die Nase reibt.

Außerdem bleibt der existenzielle Stress, unter dem sie genau wie die Billig- und Billigstlöhner leiden: Nie genug Geld haben, immer Angst zu haben, das es für selbstverständlichste Dinge nicht mehr reicht, etwa die Wohnung oder die Stromrechnung, immer das billigste kaufen müssen, immer nur die Sonderangebote, sich nie einfach mal was gönnen können. Aus jedem kleinen Malheur kann eine Katastrophe werden: Was tun, wenn die Brille runterfällt, die Waschmaschine kaputt geht, das Fahrrad geklaut wird? Für diese Dinge ist kein Geld vorgesehen und nicht jeder hat Familie oder Freunde, die aushelfen können. Diese Art Stress macht auf Dauer auch krank, da braucht es keine Managerkrankheit und kein Burnout-Syndrom. Wobei man sich heutzutage in allen Gehaltsklassen seine tägliche Stressration abholen kann – und damit zurück zu Ursula von der Leyen.

Wie ich auf Telepolis las, erklärte unsere liebe Ursula anlässlich des Anti-Stress-Events: “Unser Ziel ist Resilienz, also Widerstandsfähigkeit, nicht nur für jeden einzelnen Beschäftigten, sondern auch für die Unternehmen als Ganze.” Das klingt ganz wie der Werbespruch “Ist die Katze gesund, freut sich der Mensch!” – nur dass nicht ganz klar ist, wer in diesem Fall der Mensch ist. Doch nicht etwa die Mitarbeiter?!

Doch natürlich muss es zuallererst dem Unternehmen gut gehen, damit es für seine Mitarbeiter da sein kann. Dass ein vom ständigen Stress ausgebrannter Mitarbeiter nicht so leistungsfähig ist, wie ein ausgeruhter, der sich bester Gesundheit erfreut, ist theoretisch völlig klar, in der Praxis schleppen sich die Leute aber krank zur Schicht, weil sie Angst haben, sonst gefeuert zu werden. Denn gerade bei den Scheißjobs, die zum großen Teil aus langweiligen Routinetätigkeiten bestehen, ist es inzwischen gang und gebe, die Leute einfach zu verheizen bis sie nicht mehr können – der Ersatzmann ist nach kurzer Zeit eingearbeitet und hält vielleicht ein bisschen länger durch. Aber auch in den höheren Etagen wird von den Leute immer mehr gefordert – fürs gleiche Geld versteht sich. Insofern kann der Ansatz der Bundesarbeitsministerin, die Unternehmer aufzufordern, den Stress ihrer Mitarbeiter durch gute Führung auf ein erträgliches Maß zu senken, getrost in die Tonne getreten werden.

Denn auch der netteste und verständnisvollste Chef kommt nicht umhin, aus seinen Mitarbeitern so viel Leistung herauszuholen, dass sein Unternehmen konkurrenzfähig ist und Gewinn abwirft. Mein Chef beispielsweise ist keineswegs ein Ausbund an Verständnis und Einfühlungsvermögen und außerdem ein fürchterlicher Besserwisser, der Druck ausüben für das einzige Mittel der Motivation hält. Wer gegen den Druck protestiert, bekommt mehr Druck. Aber auch der wurde nachdenklich, als sich immer öfter Leute für immer längere Zeit krank gemeldet haben – und die waren wirklich krank! Weil die meisten Jobs bei uns nicht einfach mit irgendwelchen Aushilfen aufgefüllt werden können, weil man schon eine gewisse Qualifikation und Erfahrung dafür braucht, musste er sich also darum bemühen, die Leute arbeitsfähig zu halten und entsprechend den Druck zu mindern. Das funktioniert auch halbwegs, wobei es andererseits darauf hinausläuft, dass die gerade noch fitten Leute halt Aufgaben der anderen mit übernehmen müssen und sich an der Gesamtbelastung nichts ändert – der Laden muss halt laufen. Aber natürlich kapiert auch ein Chef, wann er sich ins Knie schießt.

An der umkomfortablen Gesamtsituation, dass man eigentlich immer mehr tun muss als man schaffen kann und dass es trotzdem nie genug ist, ändert das gar nichts. Auch daran nicht, dass wir alle deutlich weniger verdienen, als wir gemessen an Qualifikation, Berufserfahrung und ausgeübter Tätigkeit bekommen müssten. Ich will jetzt nicht zu sehr jammern, ein Leiharbeiter im Amazon-Versand wäre vermutlich sehr glücklich über mein Gehalt, aber für einen Drei-Personen-Haushalt mitten in Berlin ist es nicht besonders üppig. Aber mehr ist derzeit halt nicht drin – so ist das halt mit der freien Wirtschaft. Wenn ich ein Tagesgehalt von VW-Chef Winterkorn pro Jahr erhalten würde, wäre ich schon ganz froh. Klar, es ist deutlich besser als Amazon, Lidl oder Callcenter – trotzdem fühle ich mich gehetzt, gestresst und ausgebeutet. Was mich wundert, ist, dass angesichts der herrschenden Zustände nicht noch viel mehr Leute krank und gestresst sind. Es ist einfach unglaublich, was Menschen aushalten. Und noch unglaublicher, was sie mit sich machen lassen.



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