Streit um Supermarkt in Greifenstein – Spätschäden einer miserablen Gebietsreform?

ReweMarktHolzhausen

Rewe – bisher der einzige “Vollsortimenter” in Greifenstein – Foto: © politropolis

Kaum vorstellbar, aber ein Teil der Gemeindevertreter im hessischen Greifenstein kämpft gegen eine bessere Versorgung mit Lebensmittelmärkten. Bisher existiert nur ein größerer Vollsortimenter-Markt in der gesamten Gemeinde (10 Ortsteile). Die einen befürchten nun durch die Planungen, in dem Verwaltungs-Ortsteil Beilstein einen Discounter mit zusätzlichen Geschäften anzusiedeln, würde ein bestehender Rewe-Markt (siehe oben) in Holzhausen, einem der südlichen Ortsteile, leiden. Dagegen hoffen die anderen, die Versorgung für die gesamten nördlichen Westerwaldgemeinden könnte nun endlich besser werden. Danach sehnen sich nicht nur die älteren Mitbürger. Zuletzt war der noch der übrig gebliebene Schlecker-Markt in Greifenstein-Beilstein aus bundesweit bekannten Gründen geschlossen worden. Jetzt brechen alte Resentiments innerhalb der Ortsteile wieder auf und vergiften das Klima. In Flugblättern, die jetzt im Gemeinde-Mitteilungsblatt verteilt wurden, spricht man übereinander statt miteinander und wirft sich gegenseitig abwechselnd Verantwortungslosigkeit und Stimmungssmache vor.

Die ungeliebte Gebietsreform

Um zu die Schwierigkeiten zu verstehen, die es in manchen kommunalen Gebilden heute gibt, muss man ein sich zunächst vergegenwärtigen, wie Gemeinden von heute entstanden sind.
Die Gebietsreform z.B. in Hessen (bis 1974) war ein Unterfangen der damals regierenden Sozial-Liberalen Koalition und sollte ein großer planerischer Wurf werden. Als Ziel gab man aus “leistungsfähigere” Landkreise und Gemeinden zu schaffen, in dem man die “Verwaltungseinheiten” vergrößerte.

Das Gespür für räumlich-geografische und geschichtlich-kulturelle Zusammenhänge oder etwa dem “Identitäts-Gefühl” der betroffenen Einwohner wurde sträflich vernachlässigt. In vielen Orten bedachte man ebenfalls nicht die gewachsenen Schul- und Verkehrs-Strukturen und das daraus resultierende Einkaufsverhalten und die Einzugsgebiete der Klein- und Mittelzentren. Die eigentliche Basis jeder einigermaßen erfolgreichen Stadt- und Regionalplanung wurde politischen Interessen und auf dem Reißbrett entworfenen “Visionen” von modernen, industriellen, prosperierenden Regionen untergeordnet. Diese wurden großzügig auf der Landkarte eingezeichnet und historische Namen von derselben getilgt. All das führte zu Spannungen, erheblichem Chaos und Problemen, die bis heute in den Gemeinden Sprengkraft haben. (Und viele dieser gravierdenen Fehler werden auf europäischer Ebene gerade wiederholt)

Die “Stadt Lahn” war eines dieser Kunstgebilde, das aus der Planungswundertüte gezaubert wurde. “Lahn” entstand aus den nicht gerade dicht beieinander liegenden Städten Dillenburg, Wetzlar und Gießen . Die Verkehrskennzeichen DIL, WZ und GI verschwanden für ein paar Jahre und es gab nur noch “L“für “Lahn”, wie der gleichnamige Fluss. Die planerisch erzwungene Stadt sollte die zentrale Komponente der Wirtschaftsregion in der Mitte Hessens darstellen.
Ja, richtig, das nach dem 2. Weltkrieg für Leipzig (und die Ein-Buchstaben-Variante für eine Großstadt) reservierte Kennzeichen “L” wurde aufgrund des damals nicht mehr vorstellbaren BRD-DDR-Zusammenschlusses kurzerhand für ein mittelhessisches Städte-Konstrukt hergenommen. Das bestand in Wirklichkeit aus 3 über 50km voneinander entfernten Städten mit 30, 50 und 75 Tausend Einwohnern, mit ihren ländlichen Einzugsgebieten im Dilltal, Westerwald, Rothaargebirge, Lahntal Taunus und Vogelsberg, die laut damaliger Berechnungen von vor 40Jahren heute eine bedeutendende, zusammenhängende Stadt sein würden. Weit gefehlt.

Zum 31. Juli 1979 wurde der Landkreis Gießen bereits wieder selbständig, die Stadt Lahn wieder aufgelöst, die Städte Gießen und Wetzlar als kreisangehörige Städte in die Kreise Lahn-Dill und Gießen eingegliedert. (1) Die Nummernschilder wurden wieder geändert, es gab wieder GI für Giessen und parallel gibt es bis heute in der Universitätsstadt Giessen mit Landkreis, sowie dem heutigen Lahn-Dillkreis noch folgende Autokennzeichen: LDK, DIL, WZ, GI und L. Auf manchen alten Autos mit L-Kennzeichen aus der Gegend ist ein Aufkleber zu finden “Nein, ich komme nicht aus Leipzig”, obwohl hier sicher niemand etwas gegen Leipziger hat, nur gegen die Fragen, die wegen des Kennzeichens jedesmal auftauchen. Aber wie will man einem Unkundigen, das alles in ein paar Sätzen auf der Straße erklären? Die manchmal wie zusammengewürfelt erscheinenden Gemeinden mit ihren neuen Namen blieben allerdings bestehen. Viele Menschen sind mit der Situation bis heute unzufrieden, einige Bürgermeister sprechen von “unregierbaren Gefügen”, insbesondere an den “Rändern” der Kreise und Landesgrenzen.

Gemeinde Greifenstein: Ein schwieriges Gebilde

In der damals neu gegründeten Gemeinde Greifenstein im Lahn-Dillkreis führte die gesamte Zusammenlegung zu lang anhaltendem politischen Streit. Zuerst wollte man gar nicht miteinander. Das ehemalige Ulmtal aus dem ehemaligen Kreis Wetzlar mit preussischer Geschichte und die Westerwaldgemeinden um Beilstein aus Hessen-Nassau aus dem ehemaligen Dillkreis. (Siehe: Preussen und Nassau). Doch es gab zuletzt keine Alternativen mehr. Zuständigkeits-Chaos, Probleme bei der Schul- und Verkehrspolitik, bei der Finanzierung der Gemeinde folgten. Die landschaftlich sehr reizvolle Gemeinde besteht heute aus 10 Ortsteilen auf 67,5 Quadratkilometern, bei einer Bevölkerungsdichte von 100/qkm. (z.Vgl.: Frankfurt/M.: 2.770/qkm). Dafür hat Greifenstein jedoch 5 Vorwahlen, die mit 02… und o6.. beginnen und über ehemalige Kreis-, und frühere Landesgrenzen, Kirchen- und Schulzugehörigkeitsgrenzen und Einzugsbereichsgrenzen hinweg, bis heute keine wirkliche gemeinsame Identität und Zusammengehörigkeitsgefühl zustande gebracht. Wie auch? Die einzige ortsteilübergreifende und gut funktionierende Gemeinschaft ist bis dato die unter den freiwilligenen Feuerwehren.

Keine Hauptschule, kein Schulabschluss mehr möglich.

Die verfahrene Situation führte in der Schulpolitik letzenendes dazu, dass eine in der Verwaltungsgemeinde bestehende Haupt- und Mittelpunktschule (Hauptschulabschluss + Berufsvorbereitung) zur Grundschule degradiert werden musste und die Kinder in den Ortsteilen heute in ganz verschiedene weiterführende Bildungseinrichtungen reisen. (Was die Versorgung mit öffentlichem Nahverkehr in einer dünn besiedelten Gegend nicht gerade einfacher macht) Der Grundsatz “Kurze Beine – Kurze Wege” musste durch die Sachzwänge, die aus der Gebietsreform entstanden, für alle Schüler nach der 4. Klasse aufgegeben werden. Zu unterschiedlich sind die Einzugsbereiche. Eine Schule, die einen Schulabschluss bietet, gibt es heute vor Ort nicht mehr, für alles muss gefahren werden und zwar in ganz unterschiedliche Richtungen,  teilweise in andere Landkreise.

Nur eine Formsache?

Nun droht mit dem Streit der Gemeindevertreter um einen zu errichtenden Supermarkt eine neuerliche Spaltung innerhalb der Gemeinde. Das Plan- und Genehmigungsverfahren zieht sich, wie üblich länger hin als zunächst vorgesehen. Eine als Formsache angesehene Entscheidung bzgl. einer Fristverlängerung zur Kaufoption des in Frage kommenden Grundstücks nutzten Gemeindevertreter nun, um das ganze Projekt möglicherweise zu kippen. Mit 14:13 verhinderte die Mehrheit der “südlichen” Gemeindevertreter die Verlängerung, was die Investoren vor kaum lösbare zeitliche Probleme stellen würde und auf absehbare Zeit das Aus für ein solches Projekt bedeuten würde. Bürgermeister Martin Kröckel erklärte sinngemäß, das Thema sei für ihn längst noch nicht vom Tisch. Am 16. Dezember findet die nächste Sitzung im 18:30Uhr in der Ulmtalhalle statt.

FlaecheSupermarkt

Hier soll der neue Supermarkt entstehen – Bleibt das Gelände neben dem alten Bahnhof in Beilstein eine Baulücke?`- Foto: © politropolis.de

Währenddessen gibt es in vielen Kommunen beinahe ein Überangebot an Gewerbegebieten mit konkurrierenden Discoutern und Märkten -sogenannten Koppelstandorten-, bei denen Mitbewerber gemeinsam vom erhöhten Gesamtkundenaufkommen profitieren. In Greifenstein verhindere indes eine knappe Mehrheit der Gemeindevertreter eine bessere Versorgung und damit auch Einnahmen für die leere Gemeindekasse. Die Befürworter einer Neuansiedlung argumentieren weiter, ob ein solcher Markt schliesslich rentabel sein kann oder nicht, darüber haben die Kommunalpolitiker in der Sache nicht zu entscheiden, das ist die Verantwortung der Unternehmer.

Wenn in einer Gemeinde mit knapp 7.000 Einwohnern durch eine “Gebietsreform” aus den Siebziger Jahren solche problematischen Situationen entstehen können, welche Spannungen werden dann in einem über alle möglichen politischen und kulturellen Grenzen hinweg expandierenden Europa noch auf uns warten?

von Hans-Udo Sattler

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Quellen – weiterführende Links

Fotos: ©  politropolis.de
(1) Siehe Tabelle auf wikipedia


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