Streifzüge

Minus sechs Grad Celsius, ein Uhr mittags. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen kneife ich die Augen noch weiter zusammen. Zwischen den zwei Häuserblocks schlägt mir ein kalter Wind entgegen und bläst mir die Schneeflocken ins Gesicht.

Es ist das erste Wochenende, das ich vollständig in Irkutsk verbringe; kein Abstecher an den Baikalsee, kein Ausflug in die Natur und keine Fahrt in eine andere Stadt. Ich blieb in Irkutsk und streunte stundenlang durch Stadtwälder und Innenhöfe, ohne Karte aber mit Kamera. Ich beobachtete, sinnierte.

Das Stadtzentrum überging ich bei meinen Spaziergängen. Die protzigen Kaufmannspaläste, die historischen Gebäude und die traditionellen sibirischen Holzhäuser – all das ließ ich außer Acht. Und schlenderte stattdessen durch vier Stadtviertel: primorskij, jubilejnyj, uniwersitetskij und perwomajskij. Ich spazierte durch vier mikrorajona, wo sich Häuserblock an Häuserblock reiht. Ich ging durch monotone Landschaften aus grauen Plattenbauten, kleinen Wäldern, Sümpfen und Fernwärmerohren, durchbrochen von den grellbunten Fassaden der Einkaufszentren und den farbigen Fronten der Neubauten. Ich beobachtete Menschen, die auf den Boden starrend ihres Weges gingen, sah Kinder, die lärmend auf den vielen Spielplätzen spielten und hörte ab und an ein eingeschaltetes Fernsehgerät durch geöffnete Fenster. Ich betrachtete die Tristesse der „chruschtschowki“ genannten Wohnblocks aus den fünfziger Jahren. Und staunte über die kleinen Details, die das eintönige Grau ansehnlicher machen: bunt gestrichene Balkone, Topfpflanzen, gewundene Verzierungen. Man arrangiert sich eben.

Hier, jenseits des Stadtzentrums, sieht und spürt man sie, einige der großen Probleme Russlands. Zerbrochene Flaschen liegen auf dem Boden, vereinzelt gebrauchte Spritzen. Die Lebenserwartung der Männer in der Irkutskaja Oblast’ (Gebiet Irkutsk) beträgt 53 Jahre und ist damit die niedrigste in ganz Russland. Die Gründe dafür: Alkohol, Drogen und AIDS. Auch bei der Anzahl der HIV-Infizierten liegt das Gebiet Irkutsk im Spitzenfeld der russischen Regionen: zwischen 15.000 und 30.000 Menschen sollen HIV-positiv sein. Eine horrende Zahl, wenn man bedenkt, dass die Irkutskaja Oblast’ zweieinhalb Millionen Einwohner hat. Eine Bekannte, die als Krankenschwester arbeitet, erzählte mir erst vor drei Tagen, dass sie binnen nur eines Arbeitstages zwei jungen, schwangeren Frauen die Nachricht überbringen musste, dass sie HIV-positiv seien.

Gemächlich gehe ich weiter, halte die Kamera in meiner eiskalten rechten Hand und beobachte einen Russen, der schweigend hinter seinem alten, qualmenden und ratternden Wolga steht. Nun bin ich also wirklich angekommen, denke ich mir. Die Euphoriewelle, mit der ich sechs Wochen lang schwamm, hat mich sanft abgeworfen. Gelandet bin ich in der Realität. Angekommen in der russischen Wirklichkeit, die mich oftmals wütend und nachdenklich stimmt, mich aber trotz all ihrer Ecken und Kanten immer noch fasziniert und in ihren Bann zieht. Ich zücke meine Kamera, suche, zoome und drücke auf den Auslöser.

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