Das mit den Kampfradlern hat sich in Berlin ein bisschen beruhigt. Mit etwas mehr gegenseitiger Aufmerksamkeit und Rücksicht und weniger Vorurteil geht es inzwischen besser, habe ich festgestellt. Dafür haben wir eine neue Gattung, die "auf Asphalt" für Erregung sorgt.
Es fing schon vor Jahren an mich zu nerven, dachte aber es liege an mir. Wenn ich in Berlin zu Fuß unterwegs bin, muss ich immer häufiger anderen ausweichen. Die mich entweder nicht sehen, keine Lust haben selbst auszuweichen oder gezielt einen pubertären oder führungskräftepädagogischen "Machtkampf" suchen. Die Berliner Gehwege sind in der Regel breit genug, man teilt sie sich aber immer mehr mit Radwegen, Cafestühlen, Baugerüsten, Infoständen und Events. Glück, wenn man zu zweit nebeneinander gehen und sich unterhalten kann. Fast ausgeschlossen, dass zwei Paare einander passieren können.
Ich merkte früh, dass ich mit Aufmerksamkeit, also dem Blick auf den oder die Entgegenkommenden, Bereitschaft zum eigenen Ausweichen signalisiere. Dann musste ich immer selbst ausweichen. Dann experimentierte ich mit Weggucken (zumindest vorgetäuschtem). Und ich lernte: Dann übernimmt der Entgegenkommende die Verantwortung für die Vermeidung einer Kollision. Das funktioniert also, ist aber eigentlich eine Egolösung. Vernünftig wäre es, wenn immer der ausweicht, der das gefahrlos kann. Und Paare gehen halt beide hintereinander.
Da Berlin jedes Jahr einen Tourismusrekord bricht, kommen mir auch immer häufiger nicht nur Paare sondern gleich Dreier- oder Viererriegel entgegen, die ihren Spaß nicht für einen dummen Passanten unterbrechen wollen. Das erfordert dann schon mehr Entschlossenheit. Von einem früheren Gelsenkirchener Polizisten lernte ich die Zauberwirkung des Wörtchens "Gasse!". Am besten mit einer unterstreichenden Handbewegung.
Jeder Mensch hat einen Nahbereich in den er andere ungern eindringen lässt. Deshalb registrieren einen die Unaufmerksamen im letzten Moment vor einer Kollision doch. Es gibt vor allem immer mehr Männer, und ich vermute es sind die, die ihre Lebenszeit hauptsächlich vor der zweidimensionalen Flatscreen verbringen, die ihre eigene Körpermaße nicht kennen und zwar vor allem ihre Breite. Die ecken dann schon mal an und sind dann ganz erschrocken, dass sie durch andere nicht durchlaufen können.
Einige ihrer Kollegen mit Anzug und Krawatte hingegen haben es immer eilig und beanspruchen bewusst Wegevorrecht. Am Potsdamer Platz sind das die Kollegen von Pfizer. Die leben in dem Irrtum, in dem viele "Businesskasper" (schönes Wort, gelernt von einem früheren Kollegen) leben, wenn sie draußen oder im Supermarkt oder vor der Fahrbahnverengung vor einer Baustelle unterwegs sind: Die anderen sind die Dummen und haben sie vorbei zu lassen. Inzwischen habe ich mehr als einmal beobachtet, wie sie vor der Kaisers Kasse in den Postdamer Arkaden eine Lektion bekamen.
Von einem Bekannten hörte ich diese Woche folgendes. Am Donnerstag regnete es in Strömen und er musste -ohne Schirm- am Bahnhof umsteigen. Er ging möglichst nah an der Bahnhofswand um so wenig wie möglich nass zu werden. Entgegen kam ihm ein Manager mittleren Alters im Anzug - und MIT Schirm. Ratet, wer wem auswich? Er beharrte auf seinem trockenen Weg so dass beide voreinander stehen bleiben musste. Er war partout nicht bereit, nachzugeben. Vielleicht ein Zwang, vielleicht Versagensangst, das zivilisiert-höfliche Verhalten könne ihm als Führungsschwäche ausgelegt werden. Vielleicht aber auch Aggro. Und wie fast immer gab auch hier am Ende der Klügere nach.
Ich selbst habe erst einmal eine Kollision erlitten. Ich bin eigentlich nicht zu übersehen und eine Kollision mit mir will man eigentlich nicht. Trotzdem erwischte es mal einen Radfahrer, der auf mich zuhielt, als ich -wieder- am Potsdamer Platz auf den Radweg ausweichen musste, weil der gesamte Platz für einen Event abgesperrt war. Übrigens für jeden sichtbar. Ich war schon halb durch, da kam er mir mit Dauerklingeln entgegen. Ich hielt kurz die Hand hoch, damit er mich abwartet. Aber nein.. Wir erwischten einander an der Schulter.
Es passierte nichts, er fuhr und ich ging weiter. Andere Bekannte hatten da vor kurzem mehr Pech. Ich weiß von zwei Radlerunfällen, bei denen einmal der Schuldige und einmal der weniger in Mitleidenschaft gezogene anschließend Anzeige gegen den anderen stellte. Das läuft wohl oft so, dass sich beide erstmal erschrecken. Dann prüft man sich und sein Rad, und wenn sich der Schreck gelegt hat, fahren beide weiter. Manchmal stürzt einer von beiden aber auch richtig. Bei Radlerunfällen ist es kaum vorhersehbar, wer den größeren Schaden davonträgt, weil es sehr darauf ankommt, wer wen wo erwischt. Zuhause erzählt man die Story dann. Und wenn dann ein Anwalt oder ein Erfahrener dabei ist, gibt der einem den Tip: Du, da geht noch was. Erstatte Anzeige!
Fazit: Wer Autofahrer spießig findet, wird zumindest in Berlin eines besseren belehrt. Die Straßenkampfjahre haben hier auch für Fußgänger begonnen.