Kathryn Bigelows lebhaft pumpende, kernige Millenniumsdystopie, deren darin vegetierende Seelen verlorene sind, die sich und ihre Erinnerung suchen, eine Erinnerung, die nur noch digital an ihr Dasein in Pixeln und Bildinformationen erinnert, in Discs vom Schwarzmarkt, umgeben von Plastik und Gebrauchsspuren. "Strange Days" ergießt sich im Tumult, in Desorganisation, im Sündenpfuhl der Farben, in überkochender Betriebsamkeit und polizeilicher Kriminalität, pulsiert im Rotlicht- und Discomilieu, bevölkert von den selbstmörderischsten Persönlichkeiten in grellem Fummel und noch grellerem Licht, jeder schreit, jeder tanzt, jeder hat seinen Spaß, auf dem Bürgersteig herrscht hingegen die höhere Gewalt einer Diktatur ohne weiße Weste, ohne weißen Ritter. Werbung, Feuer, Schüsse, Exekutionen – und mittendrin ein sentimentaler Loser, zerknautschter Fanatiker und blitzgescheiter Verkäufer (Ralph Fiennes), der jeder Schlägerei aus dem Weg geht, indem er einen Scheck als Alternative auszustellen bereit ist. Auch er sucht die Erinnerung, vor allem aber die Liebe.
Die wichtigste und sicher interessanteste Ebene im Gesellschaftsentwurf des Drehbuchs (immerhin war ein gewisser James Cameron beteiligt), der implementierte Diskurs um Wahrnehmung und Bewusstsein, äußert sich in Gehirnstromaufzeichnungen, die reale Erlebnisse audiovisuell verarbeiten und per Apparatur an den Empfänger weiterleiten, sodass er nicht nur sehen, sondern auch fühlen kann, was die jeweilige Situation als Ausschnitt aus einem Leben eines Menschen an Emotionen evoziert. Bigelow stellt hierin zwar nicht die intellektuelle Weitsicht eines David Cronenberg unter Beweis, der den Medien in seinen Filmen "Videodrome" und "eXistenZ" mit vergleichbaren Besinnungstechnologien zwischen Körper und Geist auf den Grund ging – dafür nagt diese Facette zu oberflächlich an der Tiefe des Themas und beginnt sich fortwährend selbst aufzugeben, wenn der Film in ein althergebrachtes Thriller-Schema verfällt und sein Zentrum verliert.
Doch sie bewirkt damit gleichzeitig auch, den Zuschauer direkt zu involvieren: In subjektiven Point-of-View-Shots (Kamera: Matthew F. Leonetti) während einer Flucht oder gar einer Vergewaltigung mutieren wir selbst zum voyeuristischen Beobachter, der nicht eingreifen kann und jene Dinge über sich ergehen lassen muss, die er in der Wirklichkeit als bloße unterschwellige Fantasie deklarieren würde. Überaus unheimlich, ungemein beweglich verdichtet "Strange Days" somit die Handlungsfreiheit mit der Hemmung aller Körperteile, obwohl es lediglich ein simpler Videofilm ist, der etwas zeigt und doch in all seiner abstoßenden Reinheit nachempfindet.
Ein Videotape, auf dem ein Mord dokumentiert wurde, ist es dann auch, das den Auslöser für eine mal mehr, mal weniger spannende Hetzjagd innerhalb dieser leicht futurisierten Stadt verschiedener Parteien verkörpert. Offenkundig als Noir-Verweis strukturiert, manifestiert sich die Quintessenz der Handlung unter anderem darin, den Mörder zu finden, die Hintermänner auszuschalten und eine fallengelassene Frau von ihrem gegenwärtigen Zustand zu reinigen, eine den Weltschmerz hinausschmetternde Indie-Sängerin (in knappen Kleidern und knallroter Frisur: Juliette Lewis), die gefangen ist in paranoidem Beziehungshorror eines Schleimbeutels an Mann (schmierig-verpeilt: Michael Wincott), dem ein vergangenheitsbesessener Ex-Liebhaber detektivisch auflauert (ebenjener Ralph Fiennes).
"Strange" sind die Tage dank Bigelows inszenatorischem Gestaltungswillen bis zum Millennium tatsächlich, noch mehr allerdings sind es die darin festgetackerten Typen und deren verqueere Verbindungen zueinander. Dass der Protagonist mit einer taffen, gleichermaßen durchschlagskräftigen wie schützenden Afroamerikanerin (Angela Bassett) um die Häuser zieht, um einigen Arschlöchern und Vollidioten in den Arsch zu treten, entbehrt nicht einer gewissen Frische jenes Genres, bei dem der weibliche Partner entweder fragil ins Taschentuch rotzt oder permanent gerettet werden muss. Weiterhin zu entdecken: Tom Sizemore mit langen Haaren beziehungsweise Perücken sowie Vincent D'Onofrio und sein Partner William Fichtner als dem Gesetz unterstehende, psychotische Cops, die in grotesker Brutalität das am Leben erhalten, was sich Ordnung nennt.
Im zweifach aufgeteilten Showdown in unmittelbarer Nähe zur Millenniumsfeier hat indes jede Fraktion aus diesen Persönlichkeiten ihre Probleme zur gleichen Zeit auszutragen; während Lenny (Fiennes) um seine Liebe kämpft und eigentlich der "Gummibärenspur" seines langjährigen Freundes gefolgt ist (ein durchaus vorhersehbarer Mottenkisten-Twist), kämpft Mace (Bassett) gegen den rassistischen Polizeiapparat im Konfetti der gesteigerten Vorfreude auf eine neue Zeitenwende, die – und deshalb ist Kino eh nur Realitätsimitation, weniger nachgezeichnete Realität der Realität – per ausgiebigem Kuss eingeleitet wird, womit das alte, das dunkle Kapitel Anarchie höchstens zur digitalen Vergangenheit auf einem Datenträger schrumpft.
6 | 10