Stolz auf eine Elite-Truppe, die nie zum Einsatz kommen mußte

Raketentruppen - CoverDer Militärverlag Berlin hat unlängst ein Buch über »Die Raketentruppen der NVA« her­aus­ge­bracht. Ein Buch, das sich weni­ger an waf­fen­tech­nisch inter­es­sierte Spezialisten rich­tet, son­dern pri­mär an mili­tär­po­li­tisch und geschicht­lich inter­es­sierte Bürger. In einem Geleitwort betont der frü­here DDR-Verteidigungsminister Armeegeneral a.D. Heinz Keßler, daß er noch heute stolz sei auf diese Elitetruppe der Nationalen Volksarmee. Stolz auch dar­auf, daß ihre Soldaten und Offiziere nie zum Einsatz gekom­men sind. Denn, so Keßler, »der Auftrag der NVA war die Verhinderung eines Krieges, nicht des­sen Führung.« (S. 9)

Herausgeber Kurt Schmidt, wie die ande­ren Mitautoren selbst einst Angehöriger die­ser Hauptfeuerkraft der DDR-Landstreitkräfte, merkt zum Buch an: »Die Raketentruppen (…) exis­tier­ten keine drei Jahrzehnte. Und sie ver­füg­ten gerade ein­mal über ein reich­li­ches hal­bes Hundert tak­ti­scher und operativ-taktischer Raketen, weit­aus weni­ger als die Hälfte des­sen, was die Bundeswehr besaß. Die NVA-Raketen waren mit kon­ven­tio­nel­len Sprengköpfen bestückt, denn die DDR war zu allen Zeiten frei von dem Wunsch, Nuklearwaffen besit­zen zu wol­len.«

Das erste Kapitel betrach­tet den 1962 begon­ne­nen Aufbau der NVA-Raketentruppen im inter­na­tio­na­len poli­ti­schen Kontext. Anders als in nahezu allen Mainstream-Publikationen über die wei­land DDR üblich. Und gerade das Eingehen auf welt­po­li­ti­sche Hintergründe und Zusammenhänge macht den Wert die­ses Buches aus. Deutlich wird in gleich meh­re­ren Kapiteln, daß die Sowjetunion und die Warschauer Vertragsstaaten auch bei der Entwicklung der Raketentruppen stets nur auf Entwicklungen auf Seiten der USA und der NATO rea­giert haben (jewei­lige Militärdoktrinen, NATO-Doppelbeschluß…).

Es folgt ein aus­sa­ge­kräf­ti­ger Über­blick über die Einordnung der bei­den Raketenbrigaden und der selb­stän­di­gen Raketenabteilungen der Divisionen in die Struktur der Landstreitkräfte.

Auf die mehr tech­nik­be­zo­ge­nen Kapitel, wie »Ballistische Kampfraketen«, »Raketentruppen und Kernwaffen«, »Die Ausbildung in den Raketentruppen der NVA« (äußerst infor­ma­tiv und detail­liert; auch mit Ausführungen zur Teilnahme an öffent­li­chen Militärparaden), »Die Sicherstellung der Raketentruppen im Gefecht«, soll hier nicht wei­ter ein­ge­gan­gen wer­den.

Sehr auf­schluß­reich sind die Ausführungen der Autoren zu den »Raketentruppen der NVA in den 80er Jahren, ihre Auflösung und Abwicklung«. Angesprochen wer­den hier in aller Deutlichkeit die feind­li­chen Verhaltensweisen von Bundesregierung und Bundeswehr gegen­über den Militärs der DDR und auch das kri­tik­wür­dige, ja ver­ant­wor­tungs­lose Verhalten der Gorbatschow- bzw. Jelzin-Führung in Bezug auf die Rückführung der Waffentechnik nach Rußland.

Ein umfäng­li­ches Nachwort gibt einen detail­lier­ten Über­blick über die diver­sen Waffensysteme der Waffengattung Raketentruppen und Artillerie. Es ent­hält auch einen Vortrag eines frü­he­ren Stabsoffiziers der NVA aus dem Jahre 2011. Hierin heißt es u.a.: »Kanzleramt und Bonner Hardthöhe miß­trau­ten der ost­deut­schen Armee zutiefst. Das Feindbild, des­sen Existenz immer bestrit­ten wor­den war, lebte fort und wurde nun­mehr auch innen­po­li­tisch sicht­bar. Ziel war die rest­lose Delegitimierung der Nationalen Volksarmee, ver­bun­den mit pau­scha­ler Diffamierung ihrer Soldaten. Da fiel auch nicht ins Gewicht, daß die Nationale Volksarmee im Herbst 1989 nicht die Waffen gegen das Volk gerich­tet hatte.« (S. 178/179)

Es fol­gen Angaben zum Verbleib der Berufsoffiziere nach dem 3. Oktober 1990 und über die bis heute andau­ernde dif­fa­mie­rende Behandlung aller DDR-Berufssoldaten. Der Vortragende hierzu:  »Die angeb­lich vor­bild­hafte Vereinigung der Streitkräfte war in Wirklichkeit eine Abwicklung der Nationalen Volksarmee.« (S. 178)

Eine Reihe von Anlagen geben einen Über­blick über die bei­den Verbände und alle selb­stän­di­gen Truppenteile der NVA-Raketentruppen (Bezeichnung, Tarnname, Aufstellungsdatum, Standort, Struktur, Kurzchronik, Kommandeure. Vorgestellt wer­den auch die Chefs der Raketentruppen und Artillerie, wei­tere lei­tende Offiziere die­ser Waffengattung sowie die taktisch-technischen Daten der ein­zel­nen Raketenkomplexe.

Den Autoren die­ses Sammelbandes ist zuzu­stim­men, wenn sie sagen, daß eine objek­tive his­to­ri­sche Einordnung der NVA (und auch ihrer Raketentruppen) nur mög­lich ist, wenn man diese in einen kri­ti­schen Vergleich mit der Bundeswehr stellt. Sie wer­den an die­ser Stelle sehr deut­lich und aktu­ell: »1999, neun Jahre nach dem Ende von DDR und NVA, neh­men erst­mals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges deut­sche Soldaten aktiv an einem Krieg teil. Auf dem Balkan, der in den 40er Jahren schon ein­mal mit deut­schen Waffen umge­pflügt wor­den war. Derzeit - Juni 2013 - befin­den sich etwa 6.300 deut­sche Soldaten in Auslandseinsätzen, die meis­ten davon in Afghanistan, 103 ver­lo­ren dabei ihr Leben.« (S. 179/180)

Da ist der Stolz des frü­he­ren DDR-Verteidigungsministers, daß Soldaten der NVA zu kei­ner Zeit an krie­ge­ri­schen Handlungen betei­ligt waren, durch­aus ver­ständ­lich. Er war eben Chef einer Armee, die sich real der Landesverteidung ver­schrie­ben hatte und die nicht der Durchsetzung deut­scher Großmacht- und Kapitalinteressen welt­weit ver­pflich­tet war.

Fazit: Dieses Buch haben keine »unpo­li­ti­schen« Waffen- oder Techniknarren geschrie­ben, auch keine DDR-Delegitimierer ohne Sachverstand, son­dern durch­aus kri­ti­sche Insider mit einem umfas­sen­den Wissen und mit einer kom­ple­xen Sicht auf das Thema. Herausgekommen ist eine wahre mili­tär­his­to­ri­sche Fundgrube.

Siegfried R. Krebs

Kurt Schmidt (Hg.): Die Raketentruppen der NVA. 224 S. m.Abb. brosch. Militärverlag in der Eulenspiegel Verlagsgruppe. Berlin 2013. 19,95 Euro. ISBN 978-3-360-02717-7

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]


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