„Stiller Tod“ – das ist mehr als nur ein Krimi oder Thriller

Roger Smith: Stiller Tod (Cover)

Cover

WEIMAR. (fgw) Literatur aus Südafrika dürfte hier­zu­lande den wenigs­ten Menschen bekannt sein, und das trifft sicher­lich auch auf die Kriminalliteratur zu. Und was weiß man in Deutschland eigent­lich über Südafrika? Ein bestimm­ter Typ von „Gutmenschen“ wird da anstelle von Fakten wohl men­schen­rechts­ly­risch die Namen Nelson Mandela oder Bischof Desmond Tutu vor sich her beten, wäh­rend Fußballfans sicher­lich nur das Vuvuzela-Getröte der Weltmeisterschaft 2010 erin­ner­lich sein wird.

Doch daß die nicht­wei­ßen Menschen in Südafrika auch rund 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid noch schwer an den Folgen lan­ger christlich-burischer und christlich-britischer Kolonialherrschaft lei­den, das dürfte wohl eher unbe­kannt sein. Die poli­ti­sche Macht liegt jetzt zwar in den Händen einer neuen schwar­zen Bourgeoisie, doch an den grund­le­gen­den öko­no­mi­schen und sozia­len Verhältnissen hat sich für die Masse der schwar­zen und far­bi­gen Menschen kaum etwas geän­dert. Die wei­ßen Reichen, zu denen sich schwarze Neureiche hin­zu­ge­sellt haben, sind noch rei­cher gewor­den, die Armen in den soge­nann­ten Townships dage­gen noch ärmer und wohl auch illu­si­ons­los.

Vor die­sem kurz skiz­zier­ten Hintergrund muß man den jüngs­ten Thriller „Stiller Tod” des wei­ßen Südafrikaners Roger Smith lesen. Nur vor die­sem Hintergrund aus tiefs­tem Elend, Hoffnungslosigkeit und mas­sen­haf­tem AIDS und der dar­aus resul­tie­ren­den extrem hohen Kriminalitätsrate ist die­ses Buch rich­tig zu ver­ste­hen, ist die dort geschil­derte fik­tive Handlung rich­tig ein­zu­ord­nen: Südafrika gilt als das Land mit der welt­weit höchs­ten Mordrate, ein Tötungsverbrechen ist also nichts beson­de­res…

Der erfolg­rei­che Grafik-Designer Nick Exley ist mit sei­ner Frau, einer vom Erfolg eines ein­zi­gen Romans zeh­ren­den Frau, und ihrer keine fünf Jahre alten Tochter Sunny in die Stadt sei­ner Kindheit zurück­ge­kehrt. Hier leben sie in einem abge­schot­te­ten, von einem pri­va­ten Wachdienst geschütz­ten, Wohnpark rei­cher Weißer.

Es ist Sunnys Geburtstag. Die depres­sive und dro­gen­ab­hän­gige Mutter ver­gnügt sich in der Küche mit ihrem Liebhaber, wäh­rend der Vater kif­fend mit sei­nen Kumpels pala­vert. Sunny hat von ihrem Vater ein Boot geschenkt bekom­men, das sie im Meer aus­pro­bie­ren will. Doch ihre Eltern sind ja beschäf­tigt und so kommt es, daß die Kleine im Meer ertrinkt. Das alles wird von Vernon Saul, einem far­bi­gen ehe­ma­li­gen Polizisten und jet­zi­gen Wachmann beob­ach­tet. Und Vernon beschließt, dar­aus sei­nen Nutzen zu zie­hen: „…das hier ist etwas, wovon er immer geträumt hat. Macht über einen Reichen zu haben.” (S.119)

Macht zu haben, das ist Vernons Lebenselixier. Bislang hatte er nur Macht über Kleinganoven und andere Menschen von der „Müllkippe der Apartheid”. (S.29) Insbesondere hat er Macht über seine Mutter und über Dawn Cupido.

Vernon Sauls Vorleben wird nur ange­deu­tet, aber in den weni­ger als zehn Tagen die­ser Geschichte tötet er einen Menschen nach dem ande­ren. Dennoch ist er nicht „das Böse” an sich, son­dern letzt­lich doch nur das Produkt der gesell­schaft­li­chen Verhältnisse. So wurde er schon als Kleinkind regel­mä­ßig vom eige­nen Vater ver­ge­wal­tigt, wäh­rend seine Mutter nichts wis­sen wol­lend, in der Küche vorm Fernseher saß oder in die Kirche beten ging („…ging seine Mutter zur Kirche, um irgend­ei­nem nicht exis­tie­ren­den Gott weiß der Geier was für einen Mist zu erzäh­len, und ließ Vernon mit sei­nem Vater allein.” - S. 146) Mit elf dann erschlug der Junge sei­nen Peiniger, wäh­rend er seine Mutter fortan wie eine Sklavin hielt. Und nun wollte er Macht haben, nie wie­der schutz­los aus­ge­lie­fert sein, also wurde er Polizist.

Dawn Cupido wuchs unter ähn­li­chen Verhältnissen auf, wurde eben­falls von Verwandten miß­braucht, bis sie fort­lief – mit der Folge Straßenprostitution und Drogen. Aber sie konnte sich – mit Vernons Hilfe etwas empor­rap­peln – und ver­dient ihren Lebensunterhalt als Stripperin. Vernon ist ihr Beschützer, aber nicht im Sinne Zuhälter. Auch hier kann er Macht aus­le­ben. Dawn hat eine Tochter, etwa in Sunnys Alter.

Zurück zum Ausgang. Vernon tut so, als wenn er die ver­un­glückte, aber bereits tote Sunny wie­der­be­le­ben will. Damit macht er Nick von sich abhän­gig, der sich schuld­be­wußt wegen der Vernachlässigung sei­ner Vaterpflichten zu Dankbarkeit ver­pflich­tet fühlt.

Und nun über­schla­gen sich im Leben bei­der Seiten (also der Weißen um Nick und der Farbigen und Schwarzen um Vernon) die Ereignisse.

So erschlägt Vernon zunächst im Zorn einen Klein-Dealer, der Dawn wie­der dro­gen­ab­hän­gig machen will. Es gelingt ihm aber pro­blem­los, fal­sche Spuren zu legen. Dann hetzt er Nick auf seine Frau wegen ihres Fremdgehens, wobei Nick im Streit diese ersticht. Und wie­der hat Vernon den Weißen ein Stück mehr in der Hand. Denn nun mani­pu­liert er den Tatort und kann einen von ihm vor­sätz­lich getö­te­ten Schwarzen als Täter prä­sen­tie­ren.

Doch irgend­wie beginnt gerade jetzt Dawn ihm zu ent­glei­ten, also hetzt er erst eine Beamtin des Jugendamtes auf, Dawn das Erziehungsrecht zu ent­zie­hen, wäh­rend er gleich dar­auf eben diese Beamtin ermor­det. So soll Dawn wie­der in die alte Hörigkeit zurück­ge­bracht wer­den. Vernon wäre nicht Vernon, wenn er nicht auch in die­sem Mordfall geschickt fal­sche Spuren gelegt hätte.

Doch nun kommt unver­mu­tet Dino Erasmus ins Spiel, ein schwar­zer Polizist, der als Sonderermittler Karriere machen will – und mit Vernon alte Rechnungen zu beglei­chen hat. Dino kommt Vernon pro­blem­los auf die Schliche, ebenso Nick Exley, doch er kann bei­den nichts bewei­sen.

Nick lenkt sucht Ablenkung vom Tod sei­ner Familie und nimmt einen neuen Arbeitsauftrag an. Vernon ver­mit­telt ihm für die­ses Projekt Dawn als Tänzerin. Zeitgleich for­dert er Nick auf, Dino zu töten. Das tut die­ser dann auch, aber anders als von Vernon geplant.

Ab hier gerät alles aus dem Ruder. Nick und Dawn mit Tochter kom­men ein­an­der näher, begin­nen sich von Vernon zu lösen, sich zu befreien. Das läßt Vernon nicht ruhen und er schmie­det einen per­fi­den Plan, bei des­sen Umsetzung Dawns Tochter in größte Lebensgefahr gerät…

Dies ist ein bru­ta­les Buch, ein sehr bru­ta­les Buch. Brutal rea­lis­tisch. Schonungslos ehr­lich geschrie­ben. Und daher mehr als nur ein Krimi oder Thriller. „Stiller Tod” ist viel­mehr ein lebens­wirk­li­cher Gesellschaftsroman über das heu­tige Südafrika.

Die han­deln­den Menschen aller Hautfarben und Gesellschaftsschichten wer­den weder idea­li­siert noch dämo­ni­siert. Roger Smith gelingt es, ohne große Worte glaub­hafte Charaktere zu zeich­nen. Das gilt ins­be­son­dere bei sei­nem Haupthelden Vernon Saul. Dieser ist hier, trotz aller Morde und sons­ti­gen kri­mi­nel­len Taten, nicht das per­so­ni­fi­zierte Böse. Über ihn heißt es u.a.: „Er hat diese Fähigkeit, die typisch ist für miß­brauchte Kinder, näm­lich die kleins­ten Signale wahr­zu­neh­men. Dinge zu sehen. Verbindungen her­zu­stel­len, die andere nicht bemer­ken. Das lernt man, wenn man Leute ganz genau beob­ach­tet, ihre Stimmungen erahnt, weil man ver­sucht, sich vor ihnen zu schüt­zen.” (S. 300) Doch „er hat die Gabe des Soziopathen, seine eige­nen Fantasiegebilde zu glau­ben.” (S.195)

Und an ande­rer Stelle im Zusammenhang mit sei­nem Ausscheiden aus dem Polizeidienst wird Vernon so cha­rak­te­ri­siert: „Ehe er ange­schos­sen wurde, ging es bei allem, was er tat, um Macht, darum Leuten, die schwä­cher waren als er, sei­nen Willen auf­zu­zwin­gen.” (S. 60) Doch Willen auf­zwin­gen und Macht haben muß nicht unbe­dingt nega­tiv ver­stan­den wer­den, es geht Vernon auch darum: „Gebraucht zu wer­den – so wie Dawn und Nick Exley ihn brau­chen – gibt ihm etwas, das ein wenig dazu bei­trägt, das rie­sige Loch zu fül­len, das sein Innerstes zer­frißt.” (S. 206) Das Motiv hier­für kommt erst spä­ter zutage, als es in Rückblicken um die Vergewaltigung durch den eige­nen Vater ging.

Roger Smith: Stiller Tod. Thriller. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. 384 S. geb. m. Schutzumschl. Klett-Cotta (Tropen). Stuttgart 2012. 19,95 Euro. ISBN 978-3-608-50132-2

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]

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