Stille Weihnachten - Kurzgeschichte von Helga Köbler-Stählin

Von Lyck

Stille Weihnachten
Das Land lag unter einer dicken Schneedecke, und es schaute aus, wie man sich einen Heiligen Abend nur wünschen konnte. Alles war friedlich. Nur Christine fuhr sich nervös durch das blonde Haar, das sie für dieses besondere Fest zu einer hübschen Pracht gelockt hatte.
„Bezaubernd“, rief ihr Nikolas zu, als sie aus dem Badezimmer kam. Doch mittlerweile sah sie ein wenig zerzaust aus.
Zum wiederholten Mal lief seine Gattin zur Haustür und öffnete sie gerade so, dass sie ihren Kopf in die weiße Dunkelheit hinausstrecken konnte. „Ich dachte, ich hätte es läuten hören“, seufzte sie und drehte sich enttäuscht um.
„Christine, in diesem Jahr sind wir allein“, sagte Nikolas und versuchte zu lächeln. „Der Bub wird schon noch anrufen.“
Seit dem Vormittag stand der mächtige Tannenbaum im Wohnzimmer. Nikolas hatte wie immer die Krippe aufgebaut, Christine den Baum mit goldenen Sternen, roten Kugeln und einer feierlichen Anzahl von Wachskerzen geschmückt, die Julian, seit er 13 war, anzünden durfte. Über den heutigen Tag hatten sie noch nicht geredet.
Ablenkung sei das Beste, dachte er und bat sie, das Weihnachtsessen zu servieren.
 „Ja, natürlich. Es ist ja schon dunkel. Der Kartoffelsalat ist fertig. Ich mache die Würstchen heiß“, murmelte Christine. „Weißt du wo Bello ist? Er ist gar nicht da“, fügte sie geistesabwesend hinzu. Bello war der neue Hund. Nicht ganz so klein, dafür wollig und drollig. Als der liebe Sohnemann im Sommer von Zuhause weg ging und sein Backpacker-Jahr unbedingt am anderen Ende der  Welt machen musste, war in der Bude nichts mehr los. Deshalb kam Bello. Und während Christine mit einem Mal klar wurde, dass das Weihnachtsfest besonders für die kleinen und großen Kinder im Haus seine unglaubliche Magie verbreitete, wurde ihr gewahr, dass es in diesem Jahr wohl still blieb. Hunde waren dafür einfach kein Ersatz!
„Normalerweise flitzt er, wenn er die Würstchen nur riecht“, stellte nun auch Nikolas fest. „Hab ich ihn draußen vergessen?“, fragte sie und hielt sich voller Entsetzen die Hand vor den Mund. Christine und Nikolas liefen gleichzeitig zur Tür, öffneten sie bis zum Anschlag und riefen im Duett:„Bello. Bello“. Doch nichts. Außer Schnee. Nicht einmal Fußspuren, beziehungsweise Pfotenspuren waren zu sehen. „Bello“.
Christine holte eilig die Jacken, Nikolas die Stiefel. Die Würsten und der Kartoffelsalat waren beiden wie aus dem Gedächtnis gestrichen. Als sie vor die Haustür traten, zündeten die Bewegungsmelder das Licht der Laternen an, auf denen sich spitze Mützchen aus Schnee gebildet hatten. Doch auch in ihrem Schein war kein Bello zu sehen.
„Bello“, riefen sie in die weihnachtliche Stille hinein, in der die Flöckchen leise auf ihre Köpfe rieselten. Und während sie noch riefen, vernahmen sie ein gedämpftes Heulen. Es war aus dem großen Garten gekommen, der eher einem Park glich. Christine nahm Nikolas an der Hand, und so stapften beide um ihr herrschaftliches Haus, an den starr gefrorenen Sträuchern vorbei und streiften die dürren Büsche, die in der Dunkelheit lagen. Just in dem Moment verschob sich eine dicke Wolke am Himmel. Langsam kroch der Mond dahinter hervor und tauchte die ganze weiße Pracht in eine helle, kristallene Landschaft. Und nun sahen sie es: Bello hockte vor dem mächtigen Baum und jaulte mit hoch gestrecktem Kopf in die Heilige Nacht. Über ihnen, weit oben, schimmerte, glänzte und funkelte ein Licht, ein Stern vielleicht. Aber später dachten sie, es könnte auch der Mond gewesen sein, der mit seinem betörenden Licht eine Gestalt anleuchtete, die auf einem kahlen Ast saß.„Ein Einbrecher an Weihnachten“, raunte Christine leise und lächelte, weil Bello ihn wohl auf den Baum gejagt hatte.
„Gut aufgepasst, Bello“, sagte Christine, ging auf ihn zu und kraulte ihn im weichen Fell. „Wer weiß, wie lange er schon da oben kauert, er ist ja fast eingeschneit“ staunte nun auch Nikolas.
Als sie näher kamen, sahen sie einen zitternden Gesellen. Seine Mütze war tief ins Gesicht gezogen und unter der samtigen Einfassung lugte nichts als eine rote Nase hervor. Er trug Handschuhe, Stiefel und einen weiten Umhang mit Pelzbesatz.
„Alles in Rot“, stellte Christine fest, die sich ein Lachen jetzt nicht mehr verkneifen konnte. „112-gleich kommt die rote Feuerwehr, du raffiniertes Bürschlein, und holt dich runter“, rief sie nach oben, als Nikolas sie am Ärmel zog.
„Schau mal“, flüsterte er. „Im Schnee liegt ein Jutesack. Das wird doch nicht….“.
Weiter kam er nicht. Denn schon zog Christine an der roten Schleife und schüttelte heftig an dem Sack. Etwas plumpste heraus. „Eine Reisetasche? Hätte der Beutesack nicht gereicht?“ lag ihr auf den Lippen. Doch bevor sie es ausgesprochen hatte, sah sie eine Banderole. Sie war um die Griffe geklebt und wirkte ein bisschen zerknittert. „Lufthansa. Melbourne-Frankfurt“ konnte sie dennoch lesen, bevor sie rückwärts in den Schnee fiel und ihre Löckchen vollständig ruinierte.