Stille Tage

Lange Zeit schien mir das Schreiben und Reisen wie ein Laufen mit voller Blase: Nach jeder zurückgelegten Etappe musste ich mich entleeren. Manchmal behinderte das, denn es gab viel zu berichten, und nur das Wenigste vom dem, was sich im Kopf abspielte, habe ich festgehalten. Nun sind die Füße wund, die Oberschenkel schwer, die Waden zittern – die Blase leer. Und das, was meine Reise mir nun reicht, stillt kaum den Durst. Und so wandle ich – ein wenig stumpf, sehnsüchtig und phantasierend – von einem Ort zum nächsten, in der Hoffnung noch etwas kleines Wunderbares zu entdecken. Und wie ich den Kötern von der Straße eine Brotkrume abreiße und hinwerfe, und diese sie sofort gierig hinunterschlingen, um sofort wieder ergeben, mit wedelndem Schwanz und bettelnden Augen, ihrem ungestilltem Verlangen Ausdruck zu verleihen, so streunert, lauernd und unstet, auch mein Geist umher. Der Zauber Patagoniens hat mir das Augenlicht für das Kleine genommen.

Die Ostküste Argentiniens liegt in jeglicher Hinsicht im Schatten des Westens und seinen Anden. Es ist für die meisten Reisenden eine eher untypische Reiseroute – hier zeigt sich ein unverfälschteres Land. Nur ähnelt Argentinien – mit Ausnahme der atemberaubenden Natur – zu sehr dem, was mir aus Europa bekannt ist. Die Eindrücke sind zu schwach, um die Feder in mir zu führen. Ich treffe auf sehr wenige Reisende und rede kaum.

Alkohol, Zigaretten, Schokolade, Marihuana – sie alle stimulieren jene Region im Gehirn, die auch Verliebtsein, Zärtlichkeit und Sex befrieden. Wenn es etwas Gutes gibt, dass ich mir nun, beizeiten, eine Zigarette anzünde, dann ist es das, dass ich den Alkohol aus meinem Ernährungsplan gestrichen habe. Abends, sich auf den Bordstein setzen, eine Coca-Cola trinken, eine rauchen, die Leute beobachten – das ist es, wonach es mir gelüstet.

Nach meinem verpatzten Ausflug bin ich nach Bahia Blanca zurückgekehrt. Das Gästehaus – ein Zeugnis des Klassizismus: Nichts besonderes – und doch so formvollendet und das Auge beglückend. Im Inneren ähnelte es jedoch einer Kaserne. Es war voll. Voll mit Kerlen. Der Fernseher dröhnte. Die Musikanlage auch. Der zweite Fernseher war etwas leiser. Es wurde Billard gespielt, Bier getrunken, ›hihi‹ und ›hahaha‹ gelacht. Und einer, der schimpfte den ganzen Abend herum, fasste anderen dann an den Kragen und später stand deswegen die Polizei mit Blaulicht vor dem Gästehaus. Wie geschaffen also, um sich dem Müßiggang und Schreiben zu widmen. Etwas Abwechslung erhoffte ich mir im Museum für Gegenwartskunst. Doch zeigte sich hier einmal mehr, dass eine kleine Stadt nicht den Nährboden besitzt für das, was in einer großen Stadt gedeiht.

Er lag auf dem Rücken, seitlich des Eingangs der Nationalbank. Denn Kopf zur Seite verrenkt. Der Wind bewegte seine steifen Hinterpfoten, kämmte sein Fell. Die meisten Leute gingen vorbei, aber die, die begriffen, dass er nicht mehr lebte, machten erschrocken einen Bogen um ihn.

Mein Gästehaus lag am Rande des Zentrums. Die einzige Unterhaltung versprachen Etablissements mit verdunkelten Scheiben, Neonlichtern, die den Lippen und Beinen von Frauen nachgebildet, und Türstehern, die aufgrund ihrer Schulterbreite nur seitlich durch den Eingang zu treten imstande waren. Draußen eine rauchend, schloss ich Bekanntschaft mit zwei Rappern aus den Bahamas. Der mit den Dreadlocks schämte sich anscheinend für seine Augen, sein Chigaco-Bulls-Capy saß auf der Nasenwurzel. Aber er hatte ein Kompagnon, und dieser schien vor lautem rappen, der gewöhnlichen Kommunikation verlustig gegangen zu sein. Ich fragte mich, wie denn eigentlich ein Rapper mit seiner Großmutter spricht. Beide wirkten wie auf LSD, als sie den Schatten einer Frau im Fenster einer dieser Lustgrotten bemerkten. Ich amüsierte mich – über mein Spiegelbild. Wir alberten umher, aber die Einladung auf ein Bier schlug ich aus.

Hinter den Gleisen – stadtauswärts, an einer Tankstelle – stand immer, wenn ich dort spazieren ging, ein Mann. Er hatte einen dicken Bauch, der sich hinter einem altmodischen Pullover abzeichnete, und immer mehrere Strauße Blumen in der Hand. Ihm gegenüber offerierte ein alter Mann mit abgekämpftem Gesicht Reisigbesen. Er saß auf einem Schemel, unter der handgeschriebenen Tafel, die seine Produkte anpries. Und an der Mauer des verfallenen Güterbahnhofes verkaufte eine alte Dame Zeitungen, Comics und Kreuzworträtsel – alle mit Wäscheklammern an Leinen aufgehangen. Sie schnäuze sich, denn obwohl der Himmel blau und sie Sonne schien, war es kalt.

Und hinter ihnen stand ein gigantischer Supermarkt, der all das verkaufte, was diese Menschen zu verkaufen versuchten – nur viel viel billiger.


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