Stille 7

Von Guidorohm

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Das Buch der Stille

Diese Stille könnte es sein, sagt Mora.
Er legt den Finger behutsam auf seine rissigen Lippen, die an ein Stück Fels erinnern, zerklüftet und wild, und dann lauscht Mora, während die Stille in dem Raum wütet, den wir nicht sehen, den wir aber hören können.
Tödlich und einmalig und kalt durchschreitet sie unsere Köpfe, ja, wir müssen es eingestehen, dies könnte die Stille sein, die Mora seit Jahren so verzweifelt sucht, die Stille, die nichts zulässt, nicht einmal das Fallen einer Stecknadel, die Stille, die alles aussperrt, um ganz in sich selbst zu versinken, um ganz bei sich zu sein, eine Stille, die sich verschweigt.

Mora gibt uns ein Zeichen, wir nehmen die Kopfhörer ab, er strahlt uns an. Mora ist glücklich. Das Glück versengt sein Gesicht, frisst es auf, verbrennt es. So haben wir Mora noch nie zuvor gesehen.
Der Fels bewegt sich, ein Spalt wird sichtbar, ein Höhleneingang. Worte taumeln Richtung Licht, schnüffeln aufgeregt, stürzen sich mutig in die Tiefe. Worte, die sich über die Stille auslassen, die er, Mora, an diesem Ort gefunden habe, der natürlich geheim bleiben müsse, denn sonst wäre es hin mit der Stille.

Pssssssst!
Silencio!
Kein Wort!

Still müsse es dort bleiben, der Ort sei nicht für Menschen gemacht, sondern einzig für die Stille, der wir aber lauschen könnten, hier!, er hebt seinen Kopfhörer und lächelt zufrieden.
Wir stülpen uns die Kopfhörer über die heißen und roten Ohren und horchen, hören nichts, hören tatsächlich nichts, obwohl wir uns konzentrieren.
Sehr sogar.

Uns hören wir, unsere Atemzüge, wir spüren unseren Herzschlag, der anschwillt, der unsere Körper anfeuert. Das Herz ist ein wilder Trommler.
So viele Jahre, sagt Mora, so viele Jahre, und dann, er kann es nicht aussprechen, diese letzten Worte halten sich verzweifelt an den Vorsprüngen des Felsen fest.

Wir gratulieren ihm, aber er hört uns nicht zu, längst trägt er wieder die Kopfhörer, er trägt sie stolz wie Ohren, die es braucht, um die Wahrheit endlich vernehmen zu können.
Ob er denn, wir verharren, wir versiegen, gerne würden wir über die Stille reden, über diesen Fluss aus Nichts, der, von Mikrofonen gefangen, durch unsere Hirne rauscht, aber kein Wort könnte der Stille, dieser perfekten Abwesenheit, gerecht werden.

Also schweigen wir, die Hände in den Taschen. Wir hängen, jeder für sich, einsam unseren Gedanken nach, und fragen uns, was die Stille, die Mora aufgespürt hat, uns sagen will.
Die Dinge müssen einen Sinn haben, sie müssen sich rechtfertigen, und wenn sie scheinbar keinen Sinn ergeben, dann findet man einen.
Welt will verstanden werden.

Gott, so denken wir, es könnte Gott sein, dem wir beim Schweigen belauschen und der sich uns auf diese wunderbare Weise offenbart, der uns die kühle Kehle der Ewigkeit entgegen streckt.
Ist es das, wonach Mora gesucht hat?

Eine solche Stille, zumindest die Aufnahme davon, sollte nicht verloren gehen, sie sollte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, sei es in den ruhigen Räumen eines Museums oder als käuflich erwerbbaren MP3-Download, damit sich jedes Ohr, das sich bereit dafür fühlt, der Stille, die von Mora ans Tageslicht gezerrt wurde, beiwohnen kann.
Die Leute sehnen sich nach so etwas, nach einem Ort des Innehaltens, des Verweilens, einem Ort, der von Ruhe getränkt ist, von vollkommener Ruhe.

Dies alles müssten wir Mora nun vorschlagen, der die Augen aufreißt und flüstert, diesen Moment müsst ihr hören, denn hier kreuzen sich Myriaden Fäden aus Stille und feiern die Hochzeit einer göttlichen Stille, die man so noch nirgends hören konnte.
Rasch streifen wir die Kopfhörer über, und er hat recht, wahrlich, denn es ist nichts zu hören, absolut nichts, weniger als nichts, es ist so, als wäre die Stille verstummt, als hätte sie sich ein weiteres Mal in eines ihrer zahllosen Hinterzimmer verabschiedet.

Wir können es nicht glauben, nicht fassen, Mora hat ein Wunder vollbracht, seine Suche nach Stille ist mit Erfolg gekrönt.
Hoch soll er leben, müsste man singen, aber wir sagen nichts, wir ersinnen bereits Werbespots für dieses Produkt.
Eine solche Stille kann in Zeiten des ansteigenden Lärms nicht vorenthalten werden. Sie muss für jeden hörbar und erfahrbar werden.
Dies ist man der Menschheit schuldig, außerdem könnten die Einnahmen neue Expeditionen ermöglichen, denn es ist möglich, durchaus möglich, eine noch weitaus stillere Stille aufzuspüren.

Plötzlich hebt Mora den Kopf, seine Lippen beben, nein, stammelt er.
Wir verstehen nicht, zumindest nicht sofort, aber Mora klärt uns auf, da sei etwas gewesen, ein Erhebung in der Stille, verflucht, sagt er, dies war sie also auch nicht.

Er spielt uns die betreffende Stelle vor, aber wir können nichts hören, nur diese Stille, die, so will es uns scheinen, jede Sekunde der Aufnahme stiller und stiller wird. Er habe sich da verhört, beruhigen wir Mora, der nichts davon hören will, der verzweifelt zur Decke schielt und dann doch Worte findet.
Irgendwann, sagt er, irgendwann werde ich sie finden, die echte Stille, die stille Stille.

Wir schweigen, weil es im Moment nichts mehr zu sagen gibt. Wir nicken und schweigen.
Die Stille im Raum ist nahezu greifbar, sie ist peinlich und präsent, und für einen kleinen Augenblick, denken wir, dies könnte sie sein, die Stille, die Mora seit Jahren jagt, aber wir sagen nichts, weil diese Stille dann doch allzu sehr lärmt.

Wir lauschen und sitzen und warten und denken daran, dass sie irgendwo dort draußen ist und schweigt.