Steven Erikson - Die Eisige Zeit & Der Tag des Sehers
Im Südosten von Genabackis regt sich eine neue Bedrohung: die Pannionische Domäne, angeführt vom Pannionischen Seher. Begleitet von einer hungrigen, blutrünstigen Bauernarmee verschlingt er gierig eine Stadt nach der anderen. Um ihn aufzuhalten, braucht es ein eigenwilliges Bündnis. Nach Jahren des Krieges stehen sich Dujek Einarm, Elster, Caladan Bruth und Anomander Rake erstmals als Alliierte gegenüber. Abtrünnige malazanische Soldaten, Tiste Andii, Söldner und Rhivi werden Seite an Seite kämpfen, um den Grauen des Pannionischen Sehers Einhalt zu gebieten. Doch das Bündnis steht auf tönernen Füßen. Ein eiskalter Hauch aus einer lang vergrabenen Vergangenheit stellt die Loyalitäten aller Beteiligten in Frage. Verrat hebt sein hässliches Haupt. Legenden offenbaren sich als Realität. Chaos vergiftet die Welt, in dessen Wirren sich der wahre Feind der vereinten Armee verbirgt und nach uralter Rache dürstet. In der Stadt Capustan wird sich entscheiden, ob die Allianz stark genug ist, dem Griff des Sehers und seines Meisters nach Genabackis ein Ende zu setzen.
Meiner Ansicht nach gehört der dritte Band von Steven Eriksons „Das Spiel der Götter" den T'lan Imass. Natürlich werden in „Die Eisige Zeit" und „Der Tag des Sehers" viele weitere Handlungsstränge thematisiert, doch ich habe den Eindruck, dass das Volk der Imass und ihre erbarmungswürdige Geschichte der rote Faden der Handlung dieses Bandes sind. Ich bin Erikson dafür sehr dankbar, weil ich die Beziehungen der verschiedenen Völker in seinem gewaltigen Universum nun viel besser verstehe. Die T'lan Imass sind die Vorfahren der Menschen. Durch sie sah ich die Welt, wie sie war, bevor die Menschen sich entwickelten. Ich habe erfahren, warum die Imass heute nur noch durch Magie belebter Staub und Knochen sind: vor Jahrhunderten umarmten sie in einem Ritual die Unendlichkeit, um ein endliches Ziel zu verfolgen. Darin liegt die Tragik ihrer Existenz. Sie überdauerten ihre selbst auferlegte Aufgabe, sie überdauerten ihre Götter. Sie sind untot, unsterblich, gefangen in den sich ewig wiederholenden Mustern der Zeit. Ich glaube, ich bin noch nie einem Volk begegnet, dessen Geschichte mich so traurig machte. Die Lebensmüdigkeit, die pure Erschöpfung und Resignation, die die Imass ausstrahlen, berührte mich zutiefst. Im Krieg zwischen der Pannionischen Domäne und der vereinten Armee bietet sich ihnen das erste Mal die Aussicht auf Erlösung - erneut mittels Magie. So kompliziert Steven Eriksons Magiesystem ist, ich denke, so langsam habe ich dessen Grundgerüst begriffen. Bei Erikson ist Magie mehr als reine Energie. Die Gewirre haben physische, metaphorische und philosophische Aspekte, die nicht statisch sind, sondern auf den Wandel der Welt reagieren. Sterbliche können aufsteigen, Drachenkarten neu entstehen, Gewirre können altern, sterben und vergessen oder korrumpiert werden. Die Wurzeln der modernen Gewirre liegen im älteren Gewirr der Dunkelheit Kurald Galain, mit dem die Tiste Andii um Anomander Rake verbunden sind. Die Tiste Andii wurden von Mutter Dunkel geschaffen, als Inbegriff der Perfektion. Erst das Licht verdarb alles und zeugte den Schatten. Ich finde diese Herangehensweise äußerst faszinierend, weil sie unkonventionell ist. Im Glaubenssystem der Tiste Andii ist Licht keine Verkörperung von Reinheit, Hoffnung und ganz allgemein Positivität, sondern ein Eindringling, der die Vollkommenheit der Dunkelheit beschmutzte. Für mich ergibt diese Betrachtungsweise erstaunlich viel Sinn und ich bin überrascht, dass Erikson der erste ist, der mich mit dieser Perspektive konfrontiert. Ich bin gespannt, in welchem Zusammenhang dieses Informationspuzzlestück in Zukunft von Bedeutung sein wird, denn ich habe mittlerweile erkannt, dass Erikson Tatsachen, Hintergründe und Sachverhalte niemals um ihrer selbst willen vorstellt. Seine Erklärungen verfolgen immer einen höheren Zweck, der in der aktuellen Situation nicht absehbar ist. Er bereitet seine Leser_innen auf zukünftige Ereignisse vor, erläutert im Kleinen, was später im Großen wichtig wird. So bin ich zum Beispiel überzeugt, dass Erikson im dritten Band aus Berechnung verrät, wie die Brückenverbrenner ihren Namen erhielten und zu denen wurden, die sie heute sind. Diese Geschichte verdeutlicht nicht nur, warum Hauptmann Paran es so schwer hat, Teil dieser eingeschworenen Kompanie zu werden, da bin ich sicher. Es geht um mehr. Ich kann es kaum abwarten, herauszufinden, was Erikson für sie plant. Mir sind diese harten Männer und Frauen wirklich sehr ans Herz gewachsen.
Steven Eriksons Zusammenspiel menschlicher und nicht-menschlicher Völker ist unnachahmlich. Eindimensionale Einteilungen in Gut und Böse sucht man bei ihm vergeblich, seine Charakterisierungen sind grundsätzlich von realistischem Facettenreichtum geprägt. Er versteht es, überzeugend den kausalen Zusammenhang von Ursache und Wirkung darzustellen und erklärt selbst die abstoßendsten Verhaltensweisen nachvollziehbar. Sogar die Beweggründe der Bauernarmee des Pannionischen Sehers, die Tenescowri, die mich an den äußersten Rand meiner Ekelgrenze trieb, konnte ich verstehen. Die Verzweiflung dieser armen Männer, Frauen und Kinder war so deutlich zu spüren, dass ich allem Abscheu zum Trotz Mitleid für sie empfand.
Darüber hinaus ist Erikson nicht nur ein phänomenaler Geschichtenerzähler, er ist auch ein fabelhafter Schriftsteller, dessen Schreibstil je nach Situation wundervoll und poetisch oder hart und schonungslos ist. Die Lektüre von„Das Spiel der Götter" verlangt weder Kompromissbereitschaft noch Nachsicht, denn Erikson erwartet von sich selbst als Autor genauso viel wie von seinen Leser_innen. Er ist streng und anspruchsvoll, aber fair und mutet mir nie mehr zu, als ich verdauen kann. Ich bleibe dabei: Steven Erikson ist der König der High Fantasy. Ihre Majestät, ich werfe mich Ihnen zu Füßen.