Sterbender Schwan & Co.

Wer hier mitliest, weiss, wie sehr ich meine Kinder vergöttere und darum nehme ich mir heute die Freiheit heraus, mal so richtig  über sie abzulästern und dies ganz ohne schlechtes Gewissen. Was ich hier schreibe, kann ich ihnen nämlich auch jederzeit direkt ins Gesicht sagen, also ist es streng genommen gar nicht gelästert. 

Was mir so unglaublich auf den Geist geht, ist zum Beispiel diese meisterhafte Inszenierung des sterbenden Schwans. Da sagst du zu deinem Kind: “Schieb mal bitte deine Legos ein wenig zur Seite, damit ich sie nicht aufsauge, wenn ich hier saubermache” und schon füllen sich die Augen mit Tränen, ein herzzerreissendes “Immer ich”-Wehklagen in Moll erklingt und dein Kind kollabiert kunstvoll zu deinen Füssen. Armes, geschundenes Kind. Und dir kommt natürlich mal wieder die Rolle des herzlosen Kunstbanausen zu, der dieser zarten Inszenierung mit einem donnernden “Weisst du eigentlich, wie das in meiner Kindheit war? Holz spalten mussten wir. Wochenlang. Alle zusammen, sogar die Angeheirateten. Und mein Vater war dabei nicht weniger schlecht drauf als ich, wenn ich putzen muss” ein ganz und gar unpassendes Ende setzt. 

Auch so ein Favorit: Kind vergisst irgendwo seine Winterjacke, merkt das aber erst, als es wieder zu Hause in der warmen Wohnung ist. Mama und Papa gehen mit dem Kind im Geiste noch einmal jede einzelne Station des Tages durch, um herauszufinden, wo Kind das vergessene Kleidungsstück wieder finden könnte. Kind vergisst aber natürlich, das vergessene Kleidungsstück zu holen und schiebt am nächsten Tag im Morgengrauen einen Tobsuchtsanfall: “Warum habt ihr mich nicht daran erinnert, dass ich meine Jacke holen muss? Und warum hat Papa sich nicht darum gekümmert? Er hat doch gesagt, er müsse ohnehin noch einmal zurück? Jetzt muss ich frieren und du kannst den ganzen Tag in der Wärme am Computer sitzen.” Natürlich zieht sich Kind während dieser Schimpftirade ganz ungerührt seine Ersatzwinterjacke an. Man hat ja nicht nur eine…

Noch so einer, momentan gerade Luises Spezialität: “Mama, wir müssen noch diese Übungsprüfung lösen. Dann haben wir noch die Hausaufgaben in Deutsch. Und nachher müssen wir noch Französisch machen.” “Wir? Wenn ich mich recht erinnere, habe ich meine obligatorische Schulzeit vor bald 25 Jahren abgeschlossen und auch der Abschluss der freiwilligen Verlängerung liegt schon fast 20 Jahre zurück.” Aber wehe, du sagst laut, was du da gerade denkst. Dann bist du ganz alleine Schuld daran, wenn aus dem Kind nichts wird, denn du hast dich nicht um seine Hausaufgaben gekümmert.

Seit Jahren in den Top-Ten hält sich die Sache mit dem Essen. Als sie noch klein waren, konnte man es ihnen ja noch nachsehen, dass sie voller Entsetzen auf den Teller starrten und sich fragten, womit ihre Eltern sie diesmal zu vergiften suchten. Man sollte aber meinen, auch das Prinzchen und der FeuerwehrRitterRömerPirat hätten genügend Gelegenheit gehabt, Vertrauen in die Kochkünste ihrer Eltern zu fassen, so dass sie nicht bei jedem halbwegs unbekannten Gericht einen Aufstand im Ausmass der Französischen Revolution anzetteln müssten. (Ja, auch die Franzosen mussten damals ziemlich laut nach Brot schreien, bis sie gehört wurden, aber die schrieen nicht bloss, weil Mama oder Papa mal wieder nicht nach ihrem Gusto gekocht hatten.) 

Besonders lieb und teuer sind einem die Kinder, wenn sie eine dieser wunderschönen Sternstunden mutwillig zerstören. Heute früh zum Beispiel: Da sitzen sie alle um den Frühstückstisch versammelt und du willst ihnen von diesem tollen Artikel über Elefanten erzählen, den du gestern in der “NZZ am Sonntag” gelesen hast. “Wisst ihr, da war ein Mann, der ist heute Elefantenforscher und der hatte schon als Baby einen Plüschelefanten anstelle eines Teddybären…”, fängst du an. “Ich habe sogar drei Plüschelefanten”, unterbricht der Zoowärter mit leuchtenden Augen, in denen die Hoffnung steht, dass dies die allerbesten Voraussetzungen für eine grosse Karriere als Elefantenforscher sind. “Du hast nicht drei, du hast nur zwei”, knurrt Luise hinter ihrem Frühstücksbrot hervor. “Ich hab’ drei…”, insistiert der Zoowärter. “Aber der Grosse, Weiche gehört gar nicht dir”, beharrt Luise. “Natürlich gehört der mir. Den haben mir Mama und Papa…” “Stimmt überhaupt gar nicht…” So geht das weiter, bis beim Zoowärter die Tränen fliessen und Luise die Tür knallt. Und du stehst da und murmelst: “Eigentlich hätte ich euch erzählen wollen, Elefanten hätten diesen unglaublich tollen Zusammenhalt. Die weinen sogar, wenn sie einander vermissen.” 

Ach ja, da ist noch die Sache mit der Schmutzwäsche, die nie den Weg in die Waschküche findet, obschon das eigentlich seit Jahr und Tag so vereinbart wäre. Wer darf dann dafür geradestehen, wenn keine saubere Hose, kein frisch gewaschener Lieblingspulli, kein löcherfreies Sockenpaar da sind? Du natürlich. Und dein Kind hat mal wieder eine Gelegenheit, den sterbenden Schwan zu geben…

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