Stephenie Meyer - Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl: Das kurze zweite Leben der Bree Tanner
Die letzte Aufgabe des Lesebingos 2016 verlangte von mir, ein Buch mit einer Zeitangabe im Titel zu lesen. Ich entschied mich für „Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl", eine Novelle aus Stephenie Meyers „Twilight"-Universum, die schon ewig bei mir versauerte. Ich denke, ich habe dieses Buch damals einfach zu spät gekauft. Meine Begeisterung für die „Twilight"-Reihe war bereits abgekühlt, sodass ich kein Bedürfnis verspürte, „Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl" sofort zu lesen. Es bekam seinen Platz im Regal und blieb dort jahrelang. Erstaunlicherweise sorgte ich mich jedoch nie, dass meine Erinnerungen an Bellas und Edwards Geschichte verblassen könnten. Ich fühlte mich stets gewappnet für die Novelle. Nun war es Zeit, herauszufinden, ob ich mit diesem Gefühl richtiglag.
Falle nicht auf. Halte dich an die Regeln. Vermeide Konfrontationen. Diese drei einfachen Grundsätze helfen Bree Tanner, zu überleben. Als eine von vielen in einem Nest neugeborener Vampire muss sie täglich um ihre Existenz fürchten. Täglich besteht die Gefahr, von den anderen Neugeborenen in einem Wutanfall ausgelöscht zu werden. Bree hat keine Freunde. Sie vertraut niemandem. Als sie Diego kennenlernt, fällt es ihr schwer, ihr schützendes Misstrauen abzulegen. Doch der ältere Vampir zeigt ihr, dass Freundschaft auch unter ihresgleichen möglich ist. Bree träumt von einer gemeinsamen Zukunft, weit entfernt von den anderen. Sie ahnt nicht, dass sie zu einem bestimmten Zweck erschaffen wurde. Sie weiß nichts von den Cullens oder Bella Swan und erkennt das Vampirnest nicht als das, was es ist: eine Armee. Sie ist einfach nur ein Mädchen, das Pech hatte. Dies ist ihre Geschichte.
Ich empfinde „Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl" als Bereicherung für die „Twilight"-Reihe. Wie leicht haben wir uns damals von den Cullens einlullen lassen, glaubten an die Kultiviertheit der Vampire, an die absolute Kontrolle, die sie selbst in Momenten höchster Grausamkeit pflegten und vergaßen darüber, dass Vampire in ihrer Essenz Raubtiere sind, die erst mit zunehmendem Alter lernen, sich nicht von ihren Trieben beherrschen zu lassen. Wir lasen davon, dass es Neugeborenen angeblich schwerfalle, sich zu zügeln und erfuhren doch nie, wie das Leben eines durchschnittlichen neu erschaffenen Vampirs aussieht. „Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl" schließt diese Lücke. Bree Tanner ist eine Nebenfigur, die im dritten Band „Bis(s) zum Abendrot" als Teil der Vampirarmee auftaucht, die die rachsüchtige Victoria zusammenstellt, um den Cullens zu schaden und Bella zu töten. Meyer fasst es im Vorwort dieser Novelle sehr schön zusammen: „Aus Bellas Perspektive lebt sie gerade mal fünf Minuten". Durch die - wie Meyer es nennt - „Ich-Erzählungs-Scheuklappen" widmete auch ich Bree damals kaum mehr als zwei Gedanken. Ich habe mich nie gefragt, wie dieses junge Mädchen überhaupt dort endete und vergaß sie schnell wieder. Nun wird sie mir wohl im Gedächtnis bleiben. Bree ist clever, nachdenklich und eher introvertiert. Sie liest gern. Na, an wen erinnert euch das? Richtig, sie ist Bella in ihrer Charakterkonstruktion sehr ähnlich. Ich hätte mir eine deutlichere Abgrenzung zur Heldin der Reihe gewünscht, weil es die veränderte Herangehensweise an die Thematik der Vampire betont hätte. Brees Geschichte erlaubte mir einen Einblick in die Lebensrealität Neugeborener. Ich erlebte ihre Triebhaftigkeit, ihre fehlende Impulskontrolle und spürte Brees Angst, ihre permanente Anspannung. Ohne Führung sind die Vampire im Nest völlig unberechenbar. Sie wissen nichts über ihre eigene Art und werden mit den Auswirkungen der Verwandlung allein gelassen. Victoria mag ihre Schöpferin sein, doch sie hat keinerlei Interesse daran, sie anzulernen oder sich um sie zu kümmern. Die Rolle des Babysitters überlässt sie einem gewissen Riley, der den wilden Haufen mehr schlecht als recht beaufsichtigt. Nichtsdestotrotz ist Riley die einzige Konstante im Leben der jungen Vampire, weshalb sie an seinen Lippen hängen und jeden Mist glauben, den er ihnen auftischt. Lediglich Bree und Diego hinterfragen seine Worte. Die Beziehung zwischen Bree und Diego entwickelt sich schneller, als man „insta-love" sagen kann. Dieses rasante Aufflammen schicksalhafter Liebe war meiner Ansicht nach vollkommen vorhersehbar und überflüssig. Mir hätte es gereicht, wären die beiden Freunde geblieben, weil die Geschichte auch so funktioniert hätte. Die Lebensumstände im Nest sind unerträglich; ihre Fluchtgedanken hätten mich auch ohne Romanze überzeugt. Unglücklicherweise kommt es dazu gar nicht erst, was mir für Bree sehr leidtat, da ich sie trotz ihrer Ähnlichkeit mit Bella mochte. Ich wusste von Vorneherein, wie es ausgeht und doch hoffte ein Teil von mir auf ein Happy End.
Es war interessant, nach all den Jahren aus einer anderen Perspektive in Stephenie Meyers „Twilight"-Universum zurückzukehren. Tatsächlich spiele ich mit dem Gedanken, die komplette Reihe noch einmal zu lesen, weil ich während der Lektüre von „Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl" meine alte Begeisterung aufflackern spürte. Natürlich sind die Bücher in vielerlei Hinsicht nicht perfekt und diese Novelle ist es ebenfalls nicht, aber die Idee, mit Ende 20 zu überprüfen, was ich heute für die Reihe empfinde, reizt mich. Ich denke, ich bin bereit, mit den Konsequenzen zu leben, denn ich rechne bereits damit, einige Kritikpunkte zu finden, die ich früher übersehen oder ignoriert habe. Vielleicht ist es Zeit.
Wenn ihr die„Twilight"-Reihe mochtet, kann ich euch „Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl" guten Gewissens empfehlen. Das schmale Buch ist eine wertvolle Ergänzung der Hauptgeschichte, weil es eine Wissenslücke füllt. Kultiviertheit muss erst kultiviert werden. Selbst in der Sonne funkelnde Halbgötter sind zu Beginn ihres Daseins rohe Wilde. Es ist schade, dass Bree Tanner nie die Chance erhielt, über diesen Status hinauszuwachsen. Das Potential hatte sie.