Stéphane Hessel (c) dr
Stéphane Hessel, 93jähriger, französischer Grandseigneur, war am 10.2. vom Europarat und der Stadt Straßburg zum „Dialogue de Strasbourg“ eingeladen worden. Der unglaublich virile ehemalige Diplomat kam dieser Einladung gerne nach, konnte er doch dabei sein Buch “Indignez -vous!“ zu Deutsch: „Empört Euch!“ promoten.
Wie bei einem richtigen Popkonzert wartet das Publikum gut eine halbe Stunde länger auf den Auftritt des Stars. Immer strömen noch mehr Zuhörerinnen und Zuhörer in den Saal, in dem sich schließlich viele auch auf den Treppen zwischen den Sitzreihen niederlassen müssen. Als er auf die Bühne kommt, beginnt es im Raum zu kochen. Standing ovations mit frenetischem Applaus begrüßen den alten Herren und das zu Beginn einer Veranstaltung, bei der es um politische Ansichten und die Aufforderung zum Handeln geht – ganz abseits von einer Parteienveranstaltung. Wer hat das schon gesehen?
Stéphane Hessels Biographie liest sich wie ein Schnelldurchlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Siebenmeilenstiefeln, in denen ein Mann steckte, der aufgrund seiner Herkunft und seines eigenen Tuns heute für viele als Vorbild gelten kann. Sein neuestes Werk, ein Büchlein mit gerade einmal 32 Seiten, schlägt in Frankreich alle Verkaufsrekorde. Seit seinem Erscheinen im Oktober 2010 bis Ende Januar ging es 1,3 Millionen Mal über die Ladentische. Der Dumpingpreis von 3,– Euro, aber auch die gute Platzierung direkt neben den Kassen der unabhängigen Buchhandlungen, sowie Hessels Auftritt in einer Fernsehshow zu später Sendezeit reichte, um diese verlegerische Erfolgsgeschichte zu schreiben, möchte man meinen. Doch ganz so einfach ist das „Bestsellerrezept“ nicht.
Es gibt mehrere Faktoren, die für diesen Verkaufshit verantwortlich sind. Der erste muss den Verlegern – Indigène aus Montpellier, herausgegeben in der Reihe „Ceux qui marchent contre le vent“ – zugeschrieben werden. Sie waren es, die auf Hessel aufmerksam geworden waren, ihn um ein Treffen baten und dabei im Anschluss in wenigen Sceancen notierten, was der alte Herr zum Thema Empörung zu sagen hatte. Somit war es nicht Hessel, der von sich aus einen Verlag gesucht hat, sondern der Verleger suchte sich seinen Autor - ganz zeitgeistig – beinahe wie im Sinne der heutigen Castingshows. Ursprünglich sollten seine Erfahrungen in der Résistance im Zentrum der Aufnahmen stehen; dass sich Hessel jedoch mit den 14 direkt ihm zugeschriebenen Seiten dann stärker mit einem Zukunftsprogramm an die junge Generation Frankreichs wandte, dürfte auch seine Auftraggeber verblüfft haben.
Den zweiten Faktor, der, abgesehen von der erwähnten Fleißaufgabe der Editoren, notwendig ist, dass ein Buch zum Bestseller avanciert, muss man schon etwas genauer unter die Lupe nehmen. Ganz genau hinschauen bzw. hinfühlen zu jenen Menschen, die das kleine Büchlein vor Weihnachten oft gleich im Dutzendpack kauften, um damit ihre Freunde und Verwandtschaft zu beglücken. Und auch hier wiederum ist es à priori nicht der Inhalt, der viele Menschen in Frankreich aus dem Herzen geschrieben scheint, sondern ganz gewiss auch eine relativ banale Motivation: Wann kommt man schon in den Genuss, ein Weihnachtsgeschenk um heiße 3 Euro zu verschenken, bei welchem gleichzeitig die eigene intellektuelle Wachsamkeit mittransportiert wird!
Der dritte Faktor schließlich ist der interessanteste von allen. Denn liest man das kleine Pamphlet, fragt man sich, was Hessel denn darin so Neuartiges, so Einzigartiges von sich gegeben hätte, das nicht schon davor allen bekannt war? Nun, das Problem zwischen Israel und den Palästinensern im Gazastreifen ist es nicht, was die Nation bewegt. Wenn, dann schon eher spaltet. In jene, die meinen, Hessel agiere hier politisch völlig unkorrekt und würde sich zu sehr auf die Seite der Palästinenser stellen. Und anderseits in jene, die Hessels Argumentation folgen und meinen, Ungerechtigkeit muss beim Namen genannt werden, selbst auf die Gefahr hin, dass die Pro-Israelfront mit Schaum vor dem Mund herumläuft, angesichts ihrer nicht genügend hervorgehobenen Demütigungen und Terroranschläge, die das Land von der Hamas hinnehmen und erleiden musste und immer noch muss. Wie auch der Erfolg des Sarrazin`schen Werkes in Deutschland zeigt, ist ein vermeintlicher oder tatsächlicher Tabubruch immer auflagefördernd. Das scheinbar eindeutige zur Schau-stellen seiner nicht am Mainstream orientierten Meinung scheint den Erfolg zu begünstigen. Allerdings sei an dieser Stelle gesagt: Haltet ein, beide Parteien. Schaut genau hin, was Hessel schreibt und sagt, denn er tritt für einen Dialog ein, den er zugegebenermaßen als „extrem schwer“ aber „nicht unmöglich“ bezeichnet. „Es geht darum, diesen Konflikt ohne Gewalt auszutragen. Gewalt ist das falsche Mittel, Unterdrückung ist das falsche Mittel. Damit kann nie Frieden gedeihen“. Und dennoch wird er dabei scheel angesehen. Das ist wohl das Los und vielleicht auch das Erfolgsrezept jener, die Position beziehen und sich nicht scheuen, bis aufs Messer dafür kritisiert zu werden. Ganz abgesehen von dieser Polemik und Auseinandersetzung, die das Büchlein in politisch aktiven Kreisen ausgelöst hat, ist es viel stärker dafür berühmt geworden, zu einem urdemokratischen Misstrauen aufgerufen zu haben und ein aktives Einmischen in die Politik der Mächtigen zu fordern.
Doch zurück zur Erfolgsgeschichte und deren dritten Faktor: Gerade Stéphan Hessel schreibt man aufgrund seines Lebens und Wirkens ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit zu. Man nimmt es diesem liebenswerten und gleichzeitig scharfsinnigen Herren ab, dass es ihm nicht um politische Lorbeeren ging und geht. Er war nie verstrickt in tagespolitische Entscheidungen, war nie einer von „denen da oben“. Im Gegensatz zu Sarrazin war er nie aktiver Politiker, jedoch Zeit seines Lebens ein politischer Aktivist.„Schaut Euch um“, sagt der alte Herr direkt ans junge Publikum im Saal Schweitzer in Straßburg gewandt. „Rund um euch gibt es Dinge, die betreffen euch. Die machen euch betroffen, die wollt ihr so nicht hinnehmen. Es kommt ganz darauf an, was euch stört. Seien es soziale Ungerechtigkeiten zwischen Jung und Alt, sei es die schlechte Behandlung von Migranten in diesem Land, sei es das Abholzen der Regenwälder. Ganz nach Eurer eigenen Persönlichkeit gibt es Dinge, die Euch so, wie sie derzeit gehandhabt werden, nicht passen. Dagegen müsst ihr euch wehren“. Sagt er und schreibt er, wohl wissend, dass dieser Aufruf alleine nicht genügt. Die „Generation Fun“ ist ja angeblich immer darauf bedacht, ihren eigenen Vorteil bei allem Tun und Lassen zu sehen. So zumindest legt der Diskussionsleiter die Fährte in Richtung Spaßgesellschaft. Aber auch hier weiß Hessel Rat: „Ich sage Euch, weil ich es selbst erlebt habe, weil ich es selbst gefühlt habe. Sich für sein Land einzusetzen, oder heute noch darüber hinaus – sich einzusetzen für den Erhalt der ganzen menschlichen Rasse – ist etwas, dass noch viel mehr Glück bereitet als man es mit der Erfüllung der eigenen, privaten Wünsche erleben kann!“ Wer kann da noch etwas dagegen setzen? Hessel verschreibt Widerstand zur persönlichen Glücksanhebung auf Rezept, sozusagen. Das dürfte wohl der allergrößte Motivwandel sein, der Aufbegehren und Revolutionen bisher zugrunde lag. Sieht man eimal davon ab, dass die Grundbedürfnisse eines Menschen nach Maslow gedeckt sind! Und doch dürfte dieser Rat, dieses Rezept nicht das Schlechteste sein.
Der Zufall wollte es, dass Hessel am Vorabend der Mubark-Abdankung in Straßburg war und aufgrund einer Fehlinformation, der auch Amerika aufgesessen war, gleich nach dem Betreten der Bühne verkündete: „Ich kann euch mitteilen, dass Mubarak zurückgetreten ist“, was mit allgemeinem Applaus quittiert wurde. Es sollte zwar noch einen Tag länger dauern, dass Ägypten seinen seit über 30 Jahren amtierenden Präsidenten aus dem Amt demonstrierte. Aber der Bogen zwischen diesem Geschehen und Hessels Ausführungen ist dennoch extrem bemerkenswert. Denn Hessel sprach ein Dilemma der westlichen Demokratien an, das mit einer Politikverdrossenheit vor allem der jungen Menschen einhergeht: „Wenn man den Krieg zwischen seinen Händen hält, ist es leicht, gegen etwas zu sein, sich zu empören!“ Was Hessel im Hinblick auf seine Jugend meinte, wird mit einem kleinen Blick nach Ägypten wie unter einem Brennglas beleuchtet. Es ist gefühlsmäßig leicht nachvollziehbar, dass in diesem arabischen Land Massen auf die Straße gingen und der psychologischen Kriegsführung der Führungselite Paroli bot. Wo es keine Demokratie gibt, die vom Volk getragen ist, wo Menschenrechte, wie in Europa gelebt, nur ein Traum sind, wo es nur einigen wenigen vorbehalten ist, Karriere zu machen, viele aber weit unter der Armutsgrenze leben müssen, da ist es tatsächlich die mannigfaltige Not, die man zwischen den Händen hält und die so unter den Nägeln zu brennen beginnt, dass man sich dagegen empören muss. In Tunesien und in Ägypten, aber auch allen anderen islamischen Ländern, in denen Menschen ohne direkte Demokratie mit freien, unmanipulierten Wahlen leben müssen, ist es leicht und zugleich unsagbar schwer, sich zu empören. Für über 300 Menschen in Ägypten so schwer, dass sie dabei ihr Leben verloren.
In Frankreich muss Stéphane Hessel von Veranstaltung zu Veranstaltung reisen, sich selbst als Vorzeigegutmenschen präsentieren und den jungen Menschen mehr Glück versprechen, damit sie sich politisch und sozial engagieren, um – vielleicht – etwas bewirken zu können. „Etwas“ in Hessel´schem Sinne meint: einen Fortschritt für die Gemeinschaft erkämpfen. Die Menschenrechte stärken, die, auch mehr als 63 Jahre nach ihrer Deklaration nichts an Aktualität und Notwendigkeit eingebüßt haben. In Frankreich füllt Stéphane Hessel Säle mit einigen hundert Menschen, in Straßburg gut einem Drittel davon im Studentenalter. In Ägypten demonstrierten Millionen hoch motivierter Menschen. Dort brauchte es keinen Hessel, der die Jungen zum Widerstand aufrief. In Frankreich, aber darüber hinaus auch in ganz Europa, ja eigentlich der gesamten westlichen Welt, braucht es aber Menschen wie Stéhane Hessel, die den Jungen die Augen öffnen und ihnen aufzeigen: „Ohne Euch geht es nicht!“ Dass der große alte Herr des Widerstandes – „ich bin ein Freund von Aufmüpfigkeit“, sich 2010 auf die Liste der Grünen im Regionalwahlkampf um Paris setzen ließ straft all jene Lügen, die ihn ausschließlich für einen eingefleischten Linken halten. „Daniel Cohn Bendit ist so ein Aufmüpfiger, deshalb habe ich ihn gerne unterstützt“ fügt er mit einem unglaublichen Schalk im Auge seinen erklärenden Ausführungen hinzu – und – wer an diesem Abend dabei war weiß: das kam von Herzen.
Die Nähe der Veranstaltung in Straßburg und der Sturz Mubaraks am darauf folgenden Tag machte es überdeutlich. Abstrakter Widerstand, Widerstand, der aus der eigenen Persönlichkeit heraus wachsen muss, ohne große Unterstützung von der Familie, von Nachbarn oder Arbeitskollegen, ist nur ganz wenigen gegeben. Widerstand, der ein kollektives Erlebnis benötigt, dadurch erst möglich wird, ist jener, der, zumindest hat es auf den ersten Blick so den Anschein, nachvollziehbar und gerechtfertigt erscheint. Einige werfen Hessel Anstiftung zum Aufruhr vor, den Aufruf zur Ungehorsamkeit quasi. Hätte Hessel in seiner Jugend diesen Ungehorsam kollektiv erleben können, der zweite Weltkrieg wäre diesem Planeten vielleicht erspart geblieben. Aus seiner Sicht hat er Recht. „Indignez vous! Empört euch!“ bevor es tatsächlich wieder zu spät ist! Aber so sollte man auch hinzufügen – schaut genau hin, bevor ihr euch empört! Denn auch der Nationalsozialismus, der für Stéphan Hessels Engagement für Frieden und Menschenrechte ausschlaggebend war, wird gerade an seinem Beginn häufig als eine instrumentalisierte Empörungsbewegung der Jungen angesehen. Deshalb sollte man, nein – muss man – bei aller Empörung auch immer noch so viel kühlen Kopf behalten, dass man seine Empörung nicht den falschen Agitatoren opfert.
Empörung ja, aber immer im Sinn der Menschenrechte und der Erhaltung der natürlichen Ressourcen. Wer sich nur empört, um des Empören willen, kann mit Stéphan Hessels Segen nicht rechnen.