Über die Schlacht im Hürtgenwald – auch die Allerseelenschlacht genannt – gibt es unzählige historische Berichte und Dokumente. In Deutschland dennoch wenig bekannt, ist sie für die Amerikaner eine unvergessen schreckliche Erfahrung und ein riesiges Desaster. Vielleicht hatte man nach der Landung der US Army in der Normandie im Juni 1944 auf eine rasche Durchquerung der Eifel und auf einen schnellen Sieg gehofft.
Doch der November 1944 war nass und kalt. Und der Hürtgenwald geprägt von tiefen Schluchten und nahezu undurchdringlichen dunklen Tannenwäldern. Tagelang hockten die GIs in Löchern, die sie sich zum Schutz gegraben hatten. Das eingelaufene Regenwasser betäubte ihre Füsse.
Um sich bei Laune zu halten, redeten sie oft vom Essen. Eine für mich völlig unbekannte Tatsache: viele der GIs waren Pennsylvania-Deutsche. Und so wirken ihre Gespräche absurd komisch, denn es geht darin um Semmelklös und Kneedelbrot, welche niemand auf der Welt so gut kochen konnte wie die eigene Mudda. In solchen Momenten hellt sich das düstere Thema Krieg immer auf.
Auch John Glueck ist Pennsylvania-Deutscher, hat deutsche Vorfahren in Nord-Amerika. Er wird auf Grund seiner guten Sprach-Kenntnisse für Propaganda und ideologische Kriegsführung eingesetzt.
Viele Jahre später muss er ein zweites Mal seine Pflicht im Krieg erfüllen. Doch statt nasskaltem deutschem Wald mit im Boden versteckten Minen, erwartet ihn undurchdringlicher feuchter Dschungel mit tödlichen Bambusspitzen in Fallgruben: Vietnam.
Fühlte sich John Glueck in Hitlerdeutschland als Befreier und Sieger, spürt er in Vietnam nichts davon. Zurück in den USA, bekommt er als Journalist die Panama Papers zugespielt. Er muss entdecken, dass der Krieg lange vor dem offiziellen Eingreifen der US-Regierung geplant und die amerikanische Öffentlichkeit gezielt desinformiert war.
John Glueck wird zum Verschwörer gegen den eigenen Staat, zum aktiven Kriegsgegner und kommt dafür 1971 ins Gefängnis. Diesen Aufenthalt nimmt Kopetzky als Rahmenhandlung und lässt John Glueck die vergangenen Erlebnisse in lakonischem Erzählton Revue passieren.
Er wird mir im Verlauf des Geschehens immer sympathischer. Wie er da im Knast sitzt und an einem Roman schreibt, außerdem wie besessen liest. Nie verliert er seinen zynisch-humorvollen Blick.
Auch wenn er wegen einer schlimmen Hautkrankheit (ausgelöst durch den Kontakt mit Agent Orange in Vietnam) nicht gut aussieht – im Gefängnis von Hannibal wird er Snakeman genannt – sehe ich ihn bereits als Filmhelden auf der Leinwand, als amerikanischen Filmhelden. Was ein seltsames Phänomen ist, denn Kopetzky ist ein deutscher Autor. Er erzählt aber so perfekt aus amerikanischer Perspektive, dass ich das Gefühl habe, eine “great american novel” zu lesen. Beispielsweise, wenn er aus Sicht der GIs die düsteren deutschen Soldaten mit den Stahlhelmen und den schauerlichen Wehrmachtsmänteln beschreibt.
Propaganda ist eine fiktive Geschichte mit historischem Hintergrund. Die Fakten der Recherche fließen elegant in den Text ein. Nie ist man sich beim Lesen sicher – ist das jetzt Phantasie des Autors oder Wahrheit? Waren auch Ernest Hemingway und Jerome D. Salinger in dieser berühmten Schlacht? Und dann taucht in der Story mit der Figur des Van Seneca schließlich noch ein Indianer auf, der Skalpe deutscher Soldaten sammelt –
Doch so sicher, wie es Tausende von Toten in jener Schlacht gegeben hat, so korrekt sind auch die Fakten über Hemingway und Salinger. All dies erfahre ich auf der Lesung im Theater am Pfefferberg (02.09.19).
Das Bühnenlicht geht an, Denis Scheck begrüßt seine Gäste und den Autoren Steffen Kopetzky mit You are entering Germany! Die Luft ist spannungsgeladen.
Wie sei es denn zu dem Roman gekommen?
Zuerst sei da einfach nur die Idee gewesen, erzählt Kopetzky. Erst während der Arbeit am Roman hätte er dann recherchiert. Tag und Nacht habe ihn das Thema beschäftigt. Mit der Recherche habe sich seine Ursprungs-Idee komplett verändert. Erst hier sei er auf Hemingway und Salinger gestoßen.
Den Hürtgenwald hätte er erst nach dem Schreiben besucht, um zu sehen, wie nah er an der Realität gewesen sei mit seiner Phantasie . Diese Mischung aus Wahrheit und Fiktion machen den Roman zu einem unvergesslichen Lese-Abenteuer. Man begegnet unzähligen Situationen, die einen in Erstaunen versetzen. Das ging übrigens nicht nur mir so bei der Lektüre!
Mit einem zwinkernden Auge und der Bemerkung, Skalpierende Indianer im Hürtgenwald, das hätte ich mir nie träumen lassen!, weist Denis Scheck auf die diversen Überraschungen hin, die man bei Kopetzky erleben darf. Der wiederum bestätigt, dass es tatsächlich Aufzeichnungen über Indianer im Hürtgenwald geben würde. Unzählige Native Americans hätten gegen Deutschland gekämpft. Und es sei ebenfalls belegt, dass die deutschen Soldaten panische Angst vor ihnen gehabt hätten.
Ein außergewöhnlicher Abend endet und rückwirkend kann ich sagen, dass es immer eine großartige Erfahrung ist, einem Autor im realen Leben zu begegnen sowie Details zum Roman zu erfahren. Mit Denis Scheck als Moderator war es aber ein echtes Highlight und hat mich enorm beflügelt und sehr glücklich gemacht. Für mich ist Propaganda mit seinen vielen Parallelen zur heutigen Zeit einer der spannendsten und besten Romane 2019.
Steffen Kopetzky. Propaganda. Rowohlt Berlin Verlag GmbH. Berlin 2019. 496 Seiten. 25,- €