Mit Playtime hat sich Jacques Tati einen Platz im Olymp der grossen Regisseure gesichert – allerdings zu einem hohen Preis!
Grosse Filme haben ein Geheimnis. Die meisten lassen, wenn man sich näher mit ihnen befasst, mehr oder weniger leicht dahinter blicken. Andere bleiben ein Rätsel.
Diese Filme behalten etwas Geheimnisvolles, eine Aura von Grösse und Unerreichbarkeit umgibt sie wie die rätselhaften Bauwerke der Antike. Man kann nur hingehen und staunen. Murnaus Sunrise ist ein solcher Film. Ebenso Jacques Tatis Playtime.
Das Rätsel, das Playtime aufgibt lautet: Weshalb funktioniert dieser Film?
Es gibt darin keine Hauptfigur, keine Handlung, die Figuren agieren die meiste Zeit in einer kalten, aseptischen Umgebung, bleiben wie diese anonym – und trotzdem bleiben wir über zwei Stunden gebannt sitzen und staunen.
Und genau da packt uns Tati: Er lässt uns staunend und zuschauend wieder zu Kindern werden. Aber dazu später mehr.
Playtime spielt sich innert ca. zwölf Stunden in einem modernen Stadtteil von Paris ab. Dieser Stadtteil, von der Filmcrew liebevoll Tativille genannt und entstanden als komplettes Studioset, nimmt La Défense vorweg, dieses einst ultramoderne, künstlich aus dem Boden gestampfte Pariser Büroviertel, dessen erstes Gebäude etwa zeitgleich mit Tatis Film entstand.
Monsieur Hulot verirrt sich auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch in den riesigen, verschachtelten Bürokomplexen und in den gläsernen Labyrinthen der modernen Bürokratie. Doch Hulot ist dieses Mal nur eine von vielen Figuren, die in den Strassenschluchten, Korridoren, Glasfluchten immer wieder auftauchen und dann wieder von ihnen verschluckt werden. Jede von ihnen wird in eine oder mehrere kleine Geschichten verwickelt, bevor sie einer anderen Figur und einer anderen Geschichte Platz macht.
So entsteht ein buntes und im Verlauf des Films immer bunter werdendes Mosaik, dessen Farbtupfer vor dem Grau der Architektur die Menschen und ihre Bezeihungen untereinander sind.
Durch Tativille geistern neben Monsiur Hulot und einigen Hulot-Doubles eine amerikanische Reisegruppe, ein deutscher Anbieter geräuschloser Türen, Monsieur Hulots zukünftiger Arbeitgeber, Barbara, eine Touristin und mehrere von Hulots alten Freunden aus vergangenen Armee-Zeiten.
Der zweite Teil des Films spielt in einem soeben neu eröffenten Nobelrestaurant, in welchem sich fast alle Figuren wieder treffen und einige neue hinzukommen. Während die Handwerker letzte Hand ans Interieur anlegen, treffen die ersten Gäste ein. Es werden immer mehr, der Grundton ändert sich fast unmerklich langsam von gedämpft zu laut und hektisch, bis die kühle Noblesse des Etablissements zuletzt in einem bunten, fröhlichen Chaos buchstäblich untergeht.
Im Verzicht auf Handlung und Identifikationsfiguren liegt wohl der Schlüssel zum Misserfolg dieses Films. Er floppte an der Kinokasse, was Tati in den Ruin trieb. Die Entstehungskosten und die Einspielergebnisse divergierten derart, dass Tati danach bankrott war. Sein nächster (und letzter) Film, Trafic war ein Billgfilm im Vergleich zu seinen Vorgängern.
Noch heute steht Playtime im Schatten von Tatis ungleich populäreren Werken wie Mon Oncle oder Les vacances de Monsieur Hulot – sogar im Ansehen von erklärten Tati-Fans.
Was dabei geflissentlich übersehen wird: Playtime ist filmhandwerklich Tatis Meisterwerk – und nicht nur das: Er ist ein Lehrstück für Kinematografie, Bildsprache, Cadrage, Bildkomposition, schlicht für das Filmhandwerk an sich!
Vielleicht ist er vor allem für Leute spannend, welche sich für die Aspekte des Filmemachens interessieren und für andere weniger? Damit wären wir wieder beim Eingangs erwähnten Rätsel, das Playtime umgibt.
Ist Playtime grossartig, weil er handwerklich derart perfekt, originell und wegweisend gemacht ist? Oder ist es doch das permanente Staunen, das er auslöst – nicht nur über Cadragen und Einstellungen, sondern auch über Einfälle, Episoden, Gags? Jede neue Einstellung bringt einen neuen Gag, keiner davon ist billig, die meisten sind völlig unvorhersehbar, einige erfasst man bei einer ersten Visionierung gar nicht.
Playtime ist eine cinèmatografische Wundertüte, ein Füllhorn der Ideen und der Kreativität, über das man sich in staunender Bewunderung freuen kann wie ein Kind. Und da liegt – vielleicht – sein Gehemnis. Aber das lässt sich nur vermuten. Playtime vereint künstlerischen Ausdruck und niveauvolle Unterhaltung so gekonnt und mit solcher Leichtigkeit, wie das nur wenige Filme fertigbringen.
* * * * *
Weitere Filmempfehlungen (sämtliche Filme sind auf DVD erhältlich, sofern nicht anders vermerkt):
Jane Eyre (2011) Ein Film wie eine Bombe: Charlotte Brontës Roman als absolut eigenständiges Filmwerk, mit betörend komponierten und ausgeleuchteten Bildern! Mit seiner düsteren Stimmung und der permanent bedrohlichen Atmosphäre ist er meilenweit von den zahlreichen bekannten, populistischeren Verfilmungen Brontës oder ihrer Zeitgenossin Jane Austen entfernt.
* * * * *
The Circus (Der Zirkus – 1928) Obwohl Chaplin sonst nicht ganz mein Fall ist, mit The Circus hat er einen grossartigen Stummfilm geschaffen. Ich halte dies für sein bestes Werk, obwohl es etwas im Schatten seiner bekannteren Titel steht.
* * * * *
Fame (Fame – Der Weg zum Ruhm – 1980)
Alan Parkers Fame hat! Der grösste Teil des Films wirkt nach wie vor frisch und aufregend. Die Geschichte einer Schauspiel-, Tanz- und Musikschule mitten in New York hat kaum von ihrer Faszination verloren, die der Film vor allem aus dem Umstand generiert, dass er stellenweise dokumentarisch wirkt. Nur da, wo er eine handvoll Studenten und Studentinnen ins Zentrum stellt, treten stellenweise die Schwächen des etwas plakativen Drehbuchs zutage – dies vor allem in den Dialogen.
Der Rest ist aber pure Kinofreude: Parkers Inszenierung ist schlicht fabelhaft. Sie wirkt noch immer lebendig, frisch und spontan.
* * * * *
Ne le dis à personne (Kein Sterbenswort – 2006) – Alexandre (François Cluzet) ist Kinderarzt. Vor acht Jahren wurde seine geliebte Frau Margot, die er von Kindsbeinen an kennt, praktisch vor seinen Augen entführt, später wurde sie ermordet aufgefunden. Und nun, acht Jahre später, wird der Fall wieder aufgerollt. Am Ort der Entführung, einem idyllischen See, hat die Polizei die verbuddelten Leichen zweier Männer gefunden. Der eine hatte einen Schlüssel in der Tasche. Der Schlüssel führte zu einem Schliessfach. Dort drin befanden sich – Alexandres Gewehr und Fotos von seiner Frau. Je mehr die Polizei bohrt, desto mehr fällt der Verdacht auf den Arzt.
Guillaume Canet hat nach einem Roman des US-Thrillerautors Harlan Coben einen starbesetzten, spannenden Film gemacht, der seine Spannung aus dem Umstand bezieht, dass sowohl der Zuschauer als auch der Held lange Zeit im Dunkeln tappen und nicht wissen, was eigentlich gespielt wird. Dass die Wahrheit am Ende viel komplizierter ist, als es zunächst schien, ist eine Thriller-Binsenweisheit, die hier zwar spannend, aber nicht immer logisch und cinéastisch etwas anspruchslos umgesetzt wird.
* * * * *